Sudabeh Mohafez, Stuttgart (D)

Sudabeh Mohafez wurde 1963 in Teheran geboren und lebt in Stuttgart. Mohafez wurde zum Bewerb von Klaus Nüchtern vorgeschlagen.

 

Download des Textes:
Word-Format (*.doc)
PDF-Format (*.pdf)

 

Info über die Autorin
Videoporträt

 

Banner TDDL 2008

 

Sudabeh Mohafez

Im roten Meer

 

Später werde ich wissen, daß vor dem Feuer eine Verpuffung war, kenne jetzt aber dieses Wort noch nicht, höre nur das Geräusch, das es bezeichnet, das gerade so klingt wie das Fachwort heißt, nämlich: es klingt wie PUFF!, eindeutig wie PUFF! Davon bin ich aufgewacht.

Und, sagt nachher der Feuerwehrmann, der junge mit den Kratzern im Gesicht, es ist ein Wunder. Das sagt er. Daß mein Überleben ein Wunder sei, und daß es direkt mit der Verpuffung zu tun habe, das sagt er auch. Denn hätten Sie die nicht gehört, also, wären Sie von der nicht aufgewacht... Und ich höre die drei Pünktchen so deutlich wie in der Nacht das PUFF!, nämlich: weil er das Wort nicht sagen möchte. Der junge Feuerwehrmann mit den Kratzern im Gesicht möchte nicht - tot - sagen. Daß ich nämlich tot wäre jetzt, also vorbei, also ein Leichnam oder der verkohlte Rest eines Leichnams, wenn mich die Verpuffung nicht geweckt hätte. Das alles sagt er, aber er sagt es erst in ein paar Stunden, wenn aus dem Haus nur noch kalter, schwarzer Rauch quillt und ein Gestank von Holzkohle und Chemikalien, wenn vier der fünf Löschzüge wieder abgezogen sind, dann wird der junge Feuerwehrmann mit den Kratzern im Gesicht das mit den Pünktchen sagen.

Jetzt ist es noch samtdunkel in der Wohnung, und auch draußen. Da ist nur dieses Rauschen, und ich träume nicht, sondern ich bin hellwach und laufe dem Rauschen nach, auf das Brüllen zu. Mit jedem Schritt wird das Rauschen lauter und lauter und wird Fauchen und Brüllen und kommt aus dem Treppenhaus.
Die Wohnungstür öffnen. Sie brennt von außen, das bedeutet: eine neunzig mal zweihundert Zentimeter große Fläche, die senkrecht zum Boden steht und jetzt in einem spitzen Winkel in meine Wohnung hineinsteht, lodert. Die Holzwand links daneben brennt und der Boden vor meiner Tür, und es ist eine Tatsache, daß ich in diesem Moment nachdenke. Ich denke über Wasser nach, über eine Decke zum Ersticken. Ich denke über Schutz nach. Aber kaum daß ich die Tür zugeschlagen habe, ein Lichterkranz. Da, wo sie im Rahmen aufliegt, bekommt die Wohnungstür plötzlich einen Feuerschmuck. Er knistert. Ich laufe zurück ins Schlafzimmer. Es ist sehr heiß. Der Ficus neben dem Bett, wie eine Wunderkerze: sprüht Funken. Die Holzwand zwischen dem Bett und dem Draußen ist verschwunden. Rotes Meer, nein: Weiß, Gelb, Rot. Meerfarben. Und ein bläuliches Flackern manchmal, kurz. Keine Fische, Krebse, Seeigel, nur ein Zischen, wie von Schlangen. Das Zischen allerletzter Feuchtigkeitsreste in uralten Bodendielen. Dann bersten die Scheiben in der Küche und im Bad.

Meine Wohnung brennt. Ich sage es leise, akkurat, überaus exakt: meine Wohnung brennt. Ich trete auf den Balkon, ziehe die Tür von außen heran, sehe durchs Fenster in die Wohnung, nein: in Meerfarben, changierend, und es ist eine Tatsache, daß ich auch bei diesem Anblick nachdenke. Ich denke darüber nach, was dieser Satz bedeutet. Was bedeutet: meine Wohnung brennt, und was bedeutet: meine Wohnung?

Sudabeh Mohafez (Foto ORF/Johannes Puch)

Die Feuerwehr kommt. Links und rechts vom Balkon lehnen Aluminiumleitern an der Wand. Sie holen erst die Leute aus den Dachwohnungen. Ihre Oberkörper haben sie weit aus den Fenstern geschoben, nämlich: über ihnen drängt ohne Unterlaß und aufwärts fließend ein Rauchstrom, ein dunkelschwarzer, ja, genau so: ein dunkelschwarzer Rauchstrom ins Freie, und oben steigt Frau Naumann mit ihren Pumps auf die Leiter, und es sieht aus, als umarme der Feuerwehrmann sie, aber er steht ein paar Sprossen tiefer und hält seine Arme nur wie einen runden, weiten Käfig um sie herum und berührt sie nicht. Er schützt sie. Vorm Herunterfallen schützt er sie, und ich denke zum zweiten Mal in dieser Nacht über Schutz nach und darüber, daß ich diesen Feuerwehrmann gern küssen würde.
Es ist eine Tatsache, daß ich das sehr ernsthaft denke. Ich würde diesen Feuerwehrmann gern küssen, weil er seine Arme wie einen runden Käfig um Frau Naumann hält, die mit ihren Pumps und den hautengen Röhrenstretchjeans und ihrer platinblonden Dauerwelle und dem pflaumenroten Damensteppanorak auf der Leiter steht und nun mit ihm zusammen in ihrem, in Frau Naumanns Tempo die Leiter hinabsteigt, und ich denke, daß ich ganz neu denken lernen muß. Daß Liebe etwas ganz anderes ist, als ich bis jetzt dachte, nämlich: ab jetzt weiß ich genau, wie es sich anfühlt, wenn ich jemanden liebe. Es fühlt sich so an. So, wie ich mich fühle, als ich den Feuerwehrmann mit seinen Armen und Frau Naumann, so, genau so, damit sie nicht herunterfällt, deshalb, und damit sie so wenig Angst wie möglich hat, nämlich: auch, wenn es ganz schlimm ist, kann jemand versuchen, daß ein bißchen weniger Angst aufgeht, und das ist Liebe. Denn er hetzt sie nicht, und er zerrt nicht an ihr und schreit sie nicht an und sagt nicht Schneller! Schneller!, und er sagt auch nicht Nun machen sie mal hinne, da oben stehen noch zwei! Er setzt einfach immer einen Fuß auf die nächste Sprosse, wenn Frau Naumann es tut, und es sieht fast aus, als tanzten sie, und ich überlege kurz, ob ich ihn nach seinem Namen frage, wenn er gleich an mir vorbeikommt, damit ich mich nachher zu ihm durchfragen und ihn küssen kann, aber dann knackt die Scheibe in der Balkontür und ich murmele zum zweiten Mal in dieser Nacht Meine Wohnung brennt, und es ist eine Tatsache, daß ich bereits in diesem Moment nicht mehr darüber nachdenke, was das bedeutet.

Dann schrecke ich zusammen. Neben mir atmet jemand. Es ist nicht der Feuerwehrmann, den ich küssen möchte. Es ist ein anderer. Er zeigt auf eine Leiter, die an meinem Balkon lehnt. Auf der Leiter steht noch ein Feuerwehrmann. Ich wende mich vom Meer ab, das bedeutet: ich wende mich vom Knistern und Bersten hinter den Scheiben ab und steige auf die Leiter und steige hinunter, und der Feuerwehrmann auf der Leiter hält meinen Arm fest, und ich denke, daß er kein so guter Tänzer ist, wie der Feuerwehrmann, den ich später küssen will. Dann ist die Leiter zu Ende. Dann stehe ich auf Erde, auf Matschboden, zertretenem Gras. Dann schiebt mich der Feuerwehrmann zu einem Mannschaftswagen, läßt endlich meinen Arm los, und ich stehe und schaue.
Links von mir das Haus: duckt sich. Wie ein speiendes, würgendes Ding, nämlich: rauchwürgend, das man totgeschlagen hat, fast totgeschlagen, denn es hustet noch, röchelt, und eine große, rote Feuerwehrmannwelle schwappt darauf zu, das bedeutet: es gibt jetzt zwei Meere. Eines, das tötet, und eines, das rettet.

Sudabeh Mohafez (Foto ORF/Johannes Puch)

Der Mannschaftswagen ist ein Mischdunstraum aus Schweiß und Lenor und Schlaf und Alkohol und Talg und Angst. Ich gehe durch den schmalen Mittelgang zwischen Nachbarknien entlang und setze mich, und dann steht die Luft. In meiner Kehle steht plötzlich die Luft, wie eine Säule aus festem, graumeliertem Granit, und Jessica aus dem Erdgeschoß, Jessica, die fünf Jahre alt ist, sagt Ich hab Durst, und Herr Manteuffel aus dem zweiten Stock flucht leise vor sich hin, und gleich ersticke ich oder platze, das bedeutet: ich stehe ruckartig auf und gehe hinaus und atme draußen Rauchluft und stehe zwischen Weißrotschräggestreiftem. Das mit dem Rot weiß ich nur, sehe es nicht, denn es ist noch Nacht, aber ich weiß, daß die dunklen Streifen rot sind auf den Bändern. Weißrotschräggestreifte Absperrbänder, dahinter Menschen. Fünfzig Menschen? Achtzig inzwischen? Das Haus qualmt nur noch, aber immer mehr Menschen und Blaulichtstreifen in Bewegung, dazwischen Dunkelfelder. Und eine Hand. Sie liegt auf meiner Schulter, drückt mich in Richtung Mannschaftswagen. Ich schüttle den Kopf. Da riecht es nach Lenorschlaf, flüstere ich ihr zu und bin etwas, das man umdrehen und schieben kann. Sie meinen das nicht böse, erkläre ich dem Mann an der Hand. Wer meint was nicht böse? Sie, sage ich und nicke in seine Richtung. Ich? Er nimmt die Hand fort. Ja, sage ich. Ich meine überhaupt nichts böse! Ich weiß, sage ich. Die Hand wieder, sie schiebt. Ich halte dagegen. Sie sollten wirklich in den Mannschaftswagen zurück. Ich ziehe meine Schulter unter der Hand fort. Wo ist der Feuerwehrmann? frage ich. Ich bin der Feuerwehrmann, sagt er. Nein, sage ich und sehe mich um. Doch, sagt er und legt seine Hand wieder auf meine Schulter und drückt wieder, und ich ducke mich wieder von seiner Hand weg und schaue nach dem Feuerwehrmann, den ich später küssen will, und kann ihn nicht ausmachen im Gerenne der vielen Männer in Sicherheitsorange und hätte nach seinem Namen fragen sollen. Wie heißen Sie? frage ich. Bitte gehen Sie jetzt in den Wagen zurück, sagt er. Aber, wie heißen Sie? frage ich. Was tut es zur Sache, wie ich heiße? sagt er, und ich sehe ihn an, nämlich: erstaunt über seine kluge Frage. Es tut tatsächlich überhaupt nichts zur Sache, sage ich und nicke. Ich will Sie ja gar nicht küssen. Wie bitte? sagt er, und ich gehe. Wo wollen Sie hin? fragt er. Atmen, sage ich. Sie wollen atmen, sagt er. Ich nicke. Sie können auch im Wagen atmen, sagt er. Ich sehe ihn an. Er ist sehr dumm. Ich gehe auf und ab, und die Hand verschwindet, und der Mann, dem sie gehört, verschwindet mit ihr, und ich setze mich auf einen Poller am Rand der Grünfläche vorm Haus und atme, und dann, ganz plötzlich, entdecke ich ihn und springe auf und laufe hinüber, und als ich ins Rettermeer tauche ist der Feuerwehrmann, den ich küssen möchte: er ist schon wieder verschwunden.
Mitten im Feuerwehrmannmeer stehe ich und bin ein Fels, um den das Meer brandet, sich öffnet, sich wieder schließt. Ich tauche blicktief, das bedeutet: nur mit den Augen tauche ich durchs Meer und finde ihn nicht. Niemand berührt mich, sondern sie machen Bögen um mich, rechts herum, links herum, je nachdem woher sie kommen und wohin sie gehen, zielstrebig, alle, mit Schläuchen und Hacken und Seilen, und jemand sagt Ich gehe ein Stück mit Ihnen, wenn Sie wollen. Vielleicht da hinüber? Er zeigt zu dem Poller, auf dem ich gesessen habe, und zeigt nur und schiebt nicht und dreht mich auch nicht, und meine Hand legt sich auf seinen Arm, und ich lege meinen Kopf an seine Brust, und er sagt: gar nichts, sondern er legt seinen anderen Arm um meine Schultern, und wir sind ein Fels, um den das Meer brandet, und das Meer teilt sich um uns, rechts herum und links herum, und niemand berührt uns. Wir sind ein Fels, der sich durchs Meer bewegt und der genau weiß, wo er hin will, nämlich: zu dem Poller am äußersten Rand des weißrotschräggestreiften Rahmens, und ich weiß überhaupt nicht, wie man gehen kann, wenn man auf diese verschlungene Art ein Fels ist, aber wir können: wir sind ein Fels, der das kann, und kommen am Poller an und setzen uns vor ihn aufs Gras, und: schweigen.

Wie heißen Sie? frage ich nach dem Schweigen, und er sagt Gelling, Heinz-Jürgen Gelling, und ich lache und sage Heinz-Jürgen Gelling, wußten Sie, daß Sie ein Fels sind? Er lächelt erst, dann schaut er ernst und sagt Manchmal bin ich ein Fels, und manchmal bin ich kein Fels. Dann sieht er zur Seite, und ich sehe auch zur Seite, nämlich: zwei Männer kommen auf uns zu.

Sudabeh Mohafez (Foto ORF/Johannes Puch)

Nein, sage ich. Die beiden schauen verständnisvoll, und sie schauen: unnachgiebig. Nein, sage ich noch einmal. Es ist unangenehm, sagt der Kleinere mit dem Schnauzbart, aber leider ist es notwendig. Ich gehe nicht dorthin, sage ich. Wir prüfen, ob etwas fehlt, falls es ein Raubüberfall war, sagt er. Ich sage Nein. Ich sage Es war kein Raubüberfall. Ich sage Ich war in der Wohnung, bis Sie gekommen sind, da konnte niemand rein, da war nur überall das Meer. Das Meer, sagt er, und ich nicke Das rote Meer und der Rauch. Das Rote Meer, sagt er, und Heinz-Jürgen Gelling sagt Das Feuer, sie meint das Feuer. Da war überall Feuer, meinen Sie? fragt der Mann, und ich nicke, und er kratzt sich an der Schläfe und fährt mit den Fingern unter seinen gelben Schutzhelm. Wie heißen Sie? frage ich. Schulze, sagt er, das sagte ich doch bereits, Hauptkommissar Schulze, Brandkripo. Es war kein Raubüberfall, Herr Schulze, sage ich, und es gibt keinen Grund. Wofür gibt es keinen Grund? fragt Hauptkommissar Schulze, und Heinz-Jürgen Gelling verdreht die Augen. Noch einmal in die Wohnung zu gehen, sagt er, dafür gibt es keinen Grund. Hauptkommissar Schulze sieht mich an. Ich bin ein störrisches Ding, das er geduldig ansieht, mit einem Hauch von Anstrengung im geduldigen Blick. Es ist immer schwer für die Opfer, sagt er, besonders für Brandopfer, aber es muß nun einmal sein. Ich bin ein störrisches, anstrengendes Ding von einem Brandopfer, und Heinz-Jürgen Gelling sagt Ich komme mit, wenn Sie wollen, und ich wende mich dem Haus zu und sehe auf die hustenden Fensterlöcher und denke, daß ich diesen Ort nicht kenne, und daß ich nichts mit ihm zu schaffen habe, und überlege, was geschähe, wenn ich tatsächlich, und nur weil Heinz-Jürgen Gelling mitzugehen bereit wäre, dorthin ginge, in diese Fremde, in diese rauchspuckende, löschschaumdurchnäßte Höhle von einer Brandherdumgebung, in die Hauptkommissar Schulze mich verschleppen will, und bin ein störrisches, anstrengendes Brandopfer, das man dazu kriegen muß, zu tun, was seine Aufgabe ist, nämlich: Tatortbegehung.

Wenn Sie wollen, komme ich mit, sagt Heinz-Jürgen Gelling noch einmal, und diesmal nicke ich, weil die Art, wie er es sagt, etwas bedeutet, nämlich: da wirst du nicht drum herum kommen. Ich muß in die Fremde gehen. Aber ich muß sie nicht allein betreten, sondern Heinz-Jürgen Gelling wird sie mit mir zusammen betreten, und ich überlege, wie man ein Fels wird, der gehen kann, wenn man in die Fremde gehen muß, und Heinz-Jürgen Gelling greift nach meiner Hand, und er lächelt nicht, sondern er schaut mir in die Augen, und ich glaube, daß er auf eine Art schaut, die bedeutet, daß es ihm leid tut, daß er mich lieber nicht drängen würde zu diesem Gang. Aber manchmal, sagt sein Blick, muß man in die Fremde gehen.

Ich möchte, sagt Hauptkommissar Schulze, daß Sie sich sorgfältig umsehen und mir alles sagen, was Ihnen auffällt. Wenn etwas fehlt oder wenn Sie etwas sehen, das Ihnen nicht gehört, sagt er und verschwindet in dem dunklen Loch vor uns, und es scheint, daß er etwas mit seinen Füßen tut, nämlich: Kratzgeräusche vom Boden im Lochdunkel. Es klingt wie Wintergranulat auf matschigen Gehwegen, wie Wintergranulat, das von großen, schweren Schuhen hin- und hergeschoben wird. Aber Heinz-Jürgen Gelling steht. Er wartet auf mich, weil ich stehe und weil ich den Kopf ein wenig vorschiebe und schaue. Ins Loch. Ins Dunkel. Ich komme mit, sagt er, und ich sage meinem Bein, daß es sich anheben und einen Schritt nach vorne machen soll. Du mußt, sage ich meinem Bein. Du wirst nicht drum herum kommen, sage ich meinem Bein, und mein Knie tut etwas, und meine Hüfte tut etwas, und mein Bein macht einen Schritt nach vorn, und Heinz-Jürgen Gelling ist bei mir, und wir gehen langsam ins Lochdunkel, und ein gelber Kegel wandert durch die fremde Landschaft. Es sind Hauptkommissar Schulzes Hände, die ihn bewegen.

In der Fremde stehen Geländerstreben wie kleine, kranke Kiefern schwarzbraun in die Luft. Sie sind unterschiedlich hoch und werden von gelben, wandernden Lichtkegeln, wie von Suchscheinwerfern, kurz beleuchtet, dann verschwinden sie wieder. In der Fremde steht Hauptkommissar Schulze auf etwas, das aussieht wie die dritte oder vierte Stufe von etwas, das aussieht, als wäre es einmal eine Treppe gewesen. In der Fremde liegen Stahlschienen mit grob gestanzten Löchern über dem, was früher einmal Stufen waren, und wir sollen, das bedeutet: Heinz-Jürgen Gelling und ich sollen über die Schienen nach oben gehen, und ich balanciere vorsichtig die eiserne Schräge zum ersten Stock der Fremde hinauf, und Heinz-Jürgen Gelling geht nah hinter mir und sagt Nach vorn sehen. Sie müssen zum Treppenabsatz sehen, und ich sehe nach vorn und schreie, weil plötzlich Hauptkommissar Schulzes Gürtel vor meinem Gesicht hängt und seine Stimme über mich hinwegdonnert. Einen Helm! donnert Hauptkommissar Schulzes Stimme, und sein Bauch hüpft dabei unter der offenen Jacke und über dem Gürtel zwei Mal nach oben und zwei Mal nach unten. Einen Helm für das Mädchen! Gelling, wo haben Sie Ihren Kopf? Heinz-Jürgen Gelling stößt mich nach vorn und an Hauptkommissar Schulze vorbei, und zwei Meter vor mir auf dem Boden liegt eine Matratze, schwarz, kokelt. Zwischen ihr und mir ist Keinewand, neben der Matratze, ein Buchkadaver, ein Lampenkadaver, eine Baumleiche. Sieht aus wie ein Ficus, sage ich zu Heinz-Jürgen Gelling, und er sagt Ja, wie ein Ficus. Jemand drückt mir einen Helm auf den Kopf. Ist er gelb oder weiß? frage ich Heinz-Jürgen Gelling. Orange, sagt er und lächelt, und dann sagt er Steht Ihnen, und ich sage Danke.

Sudabeh Mohafez (Foto ORF/Johannes Puch)

Hier entlang, sagt Hauptkommissar Schulze, und wir folgen ihm in einen schmalen Raum. Der Herd ist schwarz, die Spüle ist schwarz. Ein versengter Küchenschrank mit zersplitterten Scheiben im oberen Aufsatz, schwarz, qualmt noch. Quer vorm Fenster ein Holztisch, Stuhlreste über Dielenlöchern. Fehlt etwas? fragt Hauptkommissar Schulze. Fehlt etwas, murmele ich. Und? sagt er. Fehlt etwas? Nein, sage ich. Gut, sagt er und nickt zufrieden und geht an uns vorbei in das, was einmal ein Flur war, und wir gehen langsam hinterher, und er ist verschwunden, aber dann streckt er den Kopf aus dem nächsten Türrahmen, und wir gehen zu ihm und in den Raum hinein, und ich gehe sofort wieder in das, was einmal ein Flur war, zurück, weil ich nicht sehen will, was ich gesehen habe, und Heinz-Jürgen Gelling schiebt seinen Arm unter meinen, und Schulze! sagt er, es reicht. Sie packt das nicht, sagt er. Er sagt es leise, bestimmt. Er sagt es wie ein König. Er sagt es auch wie ein kleiner Junge, der seinem Meerschweinchen beim Sterben zusieht.

Ein Tropfen, sage ich. Ja, sagt Heinz-Jürgen Gelling, und jetzt ist seine Stimme wieder seine ganz normale Heinz-Jürgen-Gelling-Stimme. Er ist ein Tropfen geworden, sage ich, und Heinz-Jürgen Gelling sagt wieder Ja. Dann hustet er. Dann sagt er Das passiert, wenn die Temperaturen sehr hoch sind. Was er sagt, klingt logisch. Es klingt nach Wirklichkeit. In Ordnung, sage ich deshalb, und Heinz-Jürgen Gelling und Hauptkommissar Schulze sehen mich an. Ich gehe noch einmal mit, sage ich, und Heinz-Jürgen Gelling sagt Sicher? Und ich nicke, und Hauptkommissar Schulze sagt Na bitte, nach Ihnen! und läßt uns den Vortritt, und ich sehe überhaupt nicht an die linke Wand, sondern ich sehe nur auf die Badewanne, die schwarz ist, und ich sehe nur auf den Boden, der schwarz ist, das bedeutet: ich sehe drei Kadaver, nämlich: einen Handtuchkadaver, einen Zahnbürstenkadaver, einen Bademattenkadaver, und ich sehe überhaupt kein bißchen auf den gigantischen Tropfen links von mir über der Toilette, und Hauptkommissar Schulze fragt Fehlt etwas? Und ich sage Nein. Und er sagt Gut, und in den nächsten Raum müssen wir nicht, weil es ihn nicht gibt. Es gibt nur vier Wände und Keinenboden und Keinedecke, sondern, wenn man hochsieht, sieht man die Dachsparren über Frau Pietzschs Wohnung. Nein, sage ich, und Hauptkommissar Schulze sieht mich fragend an. Nein? sagt er. Ja, sage ich, nein. Wie jetzt? sagt er. Nein, sage ich, es fehlt nichts, und zeige auf den Raum, den es nicht gibt, und Heinz-Jürgen Gelling lacht leise, und Hauptkommissar Schulze macht ein seltsames Geräusch mit der Zunge oder mit den Zähnen, und ich sage Horchen Sie mal, Heinz-Jürgen Gelling, es wird Morgen, und wende den Kopf, nämlich: ein Vogel singt, und Heinz-Jürgen Gelling horcht und lächelt, und wir gehen in einen Raum, den es gibt. In dem Raum, den es gibt, gibt es, was ich schon vom Treppenhaus her gesehen habe, weil da Keinewand war. Es gibt eine Matratze, die kokelt, einen Buchkadaver, einen Lampenkadaver, eine Baumleiche. Heinz-Jürgen Gelling bückt sich. Er hebt eine Postkarte vom Boden auf. Mitten in dieser ascheverregneten, löschschaumverkrusteten Fremde hat er eine blütenreine Postkarte gefunden. Nehmen Sie sie mit, sage ich, und Heinz-Jürgen Gelling zieht den Reißverschluß seiner Sicherheitsjacke auf und schiebt die Karte in die dunkle Wärme vor seiner Brust. Und? fragt Hauptkommissar Schulze. Nein, sage ich, und die Tatortbegehung ist vorbei, und wir gehen Schritt für Schritt durch die Fremde zurück und hinaus und zum Poller.

Es ist ein Wunder, sagt Heinz-Jürgen Gelling, und ich bemerke erst jetzt die Kratzer in seinem Gesicht. Es muß eine Verpuffung gegeben haben, sagt er, und ich nicke, als er das sagt, nämlich: ich erinnere mich an das Geräusch. Die Wand zwischen dem Bett und dem Hausflur war nur eine alte, übertapezierte Tür, sagt er, und ich nicke wieder. Sie muß sofort durchgebrannt gewesen sein, und bei der Rauchentwicklung, also ohne die Verpuffung, sagt er, hätten Sie die nicht gehört, wären Sie von der nicht aufgewacht... Und ich höre die drei Pünktchen so deutlich, wie vor ein paar Stunden das PUFF!, nämlich: weil er das Wort nicht sagen möchte. Heinz-Jürgen Gelling möchte nicht - tot - sagen. Aber ich möchte es sagen, und ich sage es. Wäre ich von der nicht aufgewacht, sage ich, dann wäre ich jetzt tot, also vorbei, also ein Leichnam oder der verkohlte Rest eines Leichnams, und Heinz-Jürgen Gelling sieht mir in die Augen und: schweigt.

Sudabeh Mohafez (Foto ORF/Johannes Puch)

Vielleicht habe ich das Unglück irgendwie angezogen, sage ich in sein Schweigen, und er sieht mich plötzlich auf eine Art an, die mich still macht. Das ist kein hilfreicher Gedanke, sagt er. Das ist großer Unfug, sagt er und soll aufhören, mich so anzusehen. Deswegen spreche ich nicht mehr vom Unglückanziehen, sondern ich spreche von etwas ganz und gar anderem. Der Tropfen, sage ich, war früher ein Durchlauferhitzer, und Heinz-Jürgen Gelling hält die Luft an. Dann läßt er sie in einem langen Zug wieder frei und nickt und sagt, nämlich: als hätte er geschlafen, geträumt vielleicht, und sei gerade erst wieder in die wache Welt gewechselt und gar nicht mehr ärgerlich, mit so einer Stimme sagt er Ja, ein Durchlauferhitzer, und zieht die Postkarte hervor und betrachtet die Sonnenblume darauf. Manchmal, sagt er, findet man in der größten Verwüstung etwas, das unberührt geblieben ist. Unversehrt, sagt er. Vielleicht ist sie gar nicht unversehrt, sage ich, und Heinz-Jürgen Gelling schaut erstaunt und hält die Karte hoch. Kein Stäubchen drauf, nichts, sagt er. Sonnenblumen sind gelb, sage ich, diese hier hat all ihre Farbe verloren. Es ist ein Schwarz-Weiß-Bild, sagt Heinz-Jürgen Gelling. Aber vielleicht war es nicht immer ein Schwarz-Weiß-Bild, sage ich, und er läßt die Karte wieder in seiner Jacke verschwinden und seufzt und steht auf, und Kommen Sie, sagt er.
Der Mannschaftswagen ist leer. Wir warten drinnen, sagt Heinz-Jürgen Gelling. Er läßt die Tür offen stehen, damit ich besser atmen kann. Sie müssen jetzt irgendwo unterkommen, sagt er. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder, Sie geben der Polizei eine Adresse und werden dorthin gefahren. Dann schweigt er und zuppelt an einem losen Faden herum, der aus dem Saum seiner Sicherheitsjacke baumelt. Ich warte auf die andere Möglichkeit, aber Heinz-Jürgen Gelling schweigt immer weiter. Oder? sage ich schließlich. Ja, sagt Heinz-Jürgen Gelling, also..., und räuspert sich. Wenn Sie keine Adresse nennen können, sagt er, nachdem er sich geräuspert hat und nachdem er mich überhaupt nicht ansieht, sondern jetzt auf den metallenen Boden des Mannschaftswagens sieht, dann fährt die Polizei Sie ins nächstgelegene Obdachlosenheim. Obdachlosenheim, sage ich sehr leise und sehr akkurat, und, ich glaube, meine Stimme klingt verwundert. Da möchte ich lieber nicht hin, sage ich. Das wollen die wenigsten, sagt er und notiert die Adresse, die ich ihm nenne.
Dann sagt Heinz-Jürgen Gelling Ich muß los. Wohin? frage ich. Feierabend sagt er. Der Einsatz ist vorbei, sagt er. Sie sind im Einsatz, sage ich, und er sagt Ich bin Feuerwehrmann. Ich bin hier, weil ich im Einsatz bin. Und jetzt ist der Einsatz vorbei, sage ich, und er nickt, und ich überlege, was das bedeutet, nämlich: ich gehöre zu Heinz-Jürgen Gellings Einsatz und deshalb bin ich das, was der Einsatz ist, nämlich: vorbei, und ich lege den Kopf schräg, weil ich überhaupt nicht weiß, wie man sich trennt, wenn man ein Fels war, der wandern kann, und jetzt ein Feuerwehrmann ist, der Feierabend hat, und ein Brandopfer, das in ein paar Minuten fortgefahren wird.
Also dann, sagt Heinz-Jürgen Gelling und räuspert sich und zeigt auf den Polizisten vorm Mannschaftswagen und sieht zu Boden, während er mir die Hand hinhält. Und ich sehe seine Hand an und nehme sie und drücke sie vorsichtig, und er drückt meine Hand genauso vorsichtig und steht auf. Alles Gute, sagt er, geht zur Mannschaftswagentür, springt hinaus, dreht sich überhaupt nicht noch einmal um, sondern: verschwindet, und ich sitze und atme und betrachte meine Hand, und erst später, viel später, wird mir auffallen, daß ich vergessen habe, ihn zu küssen.

 

Banner TDDL 2008