Romana Ganzoni, CELERINA (CH)

Geboren 1967 in Scuol, lebt in Celerina, Schweiz. Studium der Geschichte und Germanistik. 20 Jahre Lehrerin am Gymnasium. Literarische Veröffentlichungen seit 2013. Sie liest auf Einladung von Hildegard E. Keller.

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Ignis Cool
von Romana Ganzoni

Bruna sass in ihrem metallic grauen Suzuki Ignis Cool. Dieser Name, peinlich. Baujahr 2003. Irakkrieg. Und Kurt auf und davon. Mit Klimaanlage das Ding. Es gab auch solche ohne, aber die Mutter hatte gesagt, das lasse ich mir nicht nehmen. Ich schenke dir die Klimaanlage, obwohl das Ganze dann noch mehr kostet. Beifahrerairbag, Elektro-Fenster, Wegfahrsperre waren dabei. Ein Allrad mit mässigem Verbrauch, 61 kW, 83 PS. Zur Zeit alles theoretisch. Nichts lief. Merda! Ausgerechnet hier musste die Karre den Geist aufgegeben. Das Benzin war ausgegangen, schon wieder. Sie stand in der Einöde, auf dem Pass, im Spätherbst, man wähnte sich im Bilderbuch. Am Berg gestrandet. Das darf doch nicht wahr sein. Immerhin war sie dem Wind da draussen nicht ausgesetzt. Vielleicht kam jemand, nahm sie mit, vielleicht nicht. Das wäre schlecht. Sie sah auf ihre Stöckelschuhe. Der rechte Fuss spielte mit dem Gaspedal.
Wieder den Hafer vergessen, hatte der Garagist gesagt, in diesem Ton, weit unter der Sprechstimme. Bruna war letzte Woche in seine Werkstatt geplatzt. Die Karre stand auf der Kreuzung, vor aller Augen, der Tank leer. Der Garagist kniff Bruna in die Backe und bewegte seine schwarzen Finger hin und her. Brauchst Gedächtnispillen oder was? Blöder Hund! Schon klar, Bruna hätte sich nie und nimmer einen Wagen leisten können als Abbrecherin von allem, was man privat und öffentlich abbrechen kann. Diese Versagerin durfte jeder dreckige Finger anfassen, oder was? Jetzt tu nicht so, Fräulein, nur weil wir jung sind und einen kleinen Arsch haben, gell. Sehe ich da etwa traurige Kirschenaugen, aber nein, ist das herzig. Nicht gleich heulen, hatte der Garagist gesagt. Ich gebe dir einen Kanister mit Benzin, und alles wird gut.
Er war ein Freund der Mutter, sie trank immer gern einen Kaffee aus dem Automaten in seinem Büro. Der Kalender mit den Blondinen machte ihr nichts aus, sie scherzte darüber. Die beiden hatten den Wagen für Bruna ausgesucht. Kompakt musste er sein. Die Mutter sagte immer kompakt. Der Fiat aus den Siebzigern war damit verhindert - und Kurt auch. Aus Sicherheitsgründen, wie sie sagten, jetzt bist du unabhängig. Für Bruna war der Fiat ihr eckiger Traum in Kiwigrün. Sie sah sich am Steuer, die grosse Sonnenbrille auf der Nase, roter Mund, Dior 999, Kurts Hand auf ihrem Knie. Er lachte hell. Bruna, das ist eine elende Klapperkiste, die Jersey-Sitze so hart, ich fahre nur mit einem Kissen mit, von der Farbe lass uns schweigen, alles grauenvoll, aber, Siebenschöne, du machst aus diesem Monstrum eine Sensation. Kurt hätte das Geld vorgeschossen, 2200 Franken.
Ihn hatte sie gemocht, so richtig, nicht wegen der 2200 für den Gegenwagen, wie er den Fiat nannte. Sie hatte ihn geliebt. Darf man das sagen? Ein verdammter Feigling war sie, hatte den Brief zerrissen. Warum hast du aus dem Auto eine Machtfrage gemacht? Ich wollte ja auch den Fiat, Kurt, aber was konnte ich tun, als der Japaner plötzlich dastand, was? Du sagtest, jetzt ist aber fertig. Es war zuviel für dich und nie ein liebes Wort von mir. Weil ich das einfach nicht kann, du hättest es verdient, Kurt. Ich schäme mir die Augen aus, aber ich bringe kein zärtliches Wort über die Lippen. Es kommt mir vor wie eine Schande. Bevor ich ein zärtliches Wort sagen könnte, wäre meine Zunge zerbissen und verschluckt. Du hättest hören wollen, du seist mein Herzbube oder etwas in dem Stil. Gut, du bist mein Herzbube, zufrieden? Ich kann es beweisen. Komm, zeig her, was du hast! Streck die Zunge raus! Ich öffne meinen Mund. Streck sie raus, die Zunge! Etwas Bitteres vorne, süsslich am Grund, sie schmeckt da nach Milchschaum. Gib mir deine Hand, ich möchte den Puls fühlen, deinen Rhythmus, Kurt. Wie in einer Herzsprechstunde. Ich greife in deine Brust, halte dein Herz in der Hand. Es krallt sich hinten fest. Lass los, Herz, lass dich gehen! Ich halte dich so warm ich kann, versprochen. Hab keine Angst. Lass los da hinten! Ich rieche an deinem Herzen. Hefekuchen mit Rosinen. Ich lecke an deinem Herzen. Es ist fast kein Blut daran. Ich lecke dein Herz. Ich kneife es, ich picke ein Stück Fleisch heraus. Ich klebe einen kiwigrünen Kaugummi ins Loch. Dein Herz lacht, es bläst den Kaugummi auf. Du gehst.
Der Fiat kommt nicht in Frage, ein Furz meiner Tochter. Wenn du einen Unfall baust, bist du platt. Ich stelle mir auch vor, dass da einmal mein Enkel mitfährt. Der Garagist nickte. Bruna schüttelte den Kopf. Ein Enkel. Vergiss es! Wie denn? Aber sicher, wenn sie einen Unfall hätte, könnte sie nicht mehr am Kabarett der Mutter teilnehmen und bewundern, was das Zeug hält, auf dem Platz ganz vorne, der billige Platz in der ersten Reihe. Da, wo man von unten zur Bühne aufschauen musste, wie die mit dem Lehrlingslohn im Kino. Da, wo man den Schuhspitzen der Diva am nächsten war. Wie früher, als man am Boden den Legosteinen nachkroch und plötzlich an den blanken Stöckelschuhen hing, schlanke Absätze neben der Patschhand. Lederschweiss und Schuhwichse drangen in die Nase, das Händchen baute weiter am bunten Schloss, an Garten und Brunnen, auf dem pissgelben Spannteppich im Gang, unbevölkerte Gemächer. Die Männchen hatte Bruna weggeworfen. Sie war ein seltsames Kind gewesen.
Der Nebel war dichter geworden. Ausgerechnet die Passebene, der Widerspruch war zum Wiehern. Auf dem Pass, da ging es doch rauf oder runter. Widersprüche waren Brunas Spezialgebiet. Diesen Pass hasste sie besonders. Und jetzt das. Als Kind hätte sie gesagt ausgerechnet Banane oder Düdado Postauto, fährt im Dreck ohne Speck. Sie stand da, wo manchmal im Sommer parallel zur Strasse Kühe rannten, traditionelles Grauvieh. Und die Simmentaler Flecken. Auch die stämmigen Black Angus. Kunterbunt, gross und klein. Solche mit Hörnern, zum Glück gab es wieder solche mit Hörnern. Man kann jetzt etwas einzahlen, den Hörner-Franken. Ein Alpöhi wirbt dafür mit Bart und Gummistiefeln. Bruna hat ihn im Fernsehen gesehen, voll sympathisch, der Typ. Die kommunizieren doch mit den Hörnern, die Kühe. Eine Sauerei, dieses Abbrennen, dieses Absägen. Die rannten da alle nacheinander, wie am Schnürchen, in Reih und Glied. Der Eindruck war etwas zwischen militärisch geordnetem Alpabzug und dynamischem Familienausflug, ausgelassene Kinder mit ihren Müttern, von denen sie die Gangart geerbt hatten. Aber vielleicht sah es nach Flucht aus, Flucht vor dem Feind oder nach Training. Man wusste nach all den durchgespielten Varianten noch immer nicht, wird hier ein Dokumentarfilm eingeblendet oder was zum Teufel ist das? Und warum sieht man Kühe sonst eigentlich nicht rennen? So eine rennende Kuh, das sollte doch ein Pflichtbild sein in jedem Kinderkopf. War es aber nicht. Flatternde Hennen, Schweine, die sich im Morast wälzen, das ja, aber rennende Kühe, nie. Denn Kühe weideten, die glotzten, die standen still für den Metzger.
Bruna fröstelte, die Kühe rannten. Könnte sie doch ein riesiges Vakuum da draussen kommandieren, bis die asphaltierte Strasse über die Ränder floss und die Findlinge mitriss. Oder wie wäre es, wenn sie selbst zur Naturgewalt würde? Sie könnte das Schneegestöber sein, das jetzt eingesetzt hatte, ein Sturm werden. Weiter oben, beim Hospiz, hinter der grossen Kurve lag schon Schnee. Da war der Gasthof. Der Wirt fuhr immer mit dem Jeep rauf. Der Fettsack hatte die Kneipe übernommen, um dort ungestört seine Alte zu betrügen. Kein Wunder, grüsste die Floristin nicht mehr. Sie habe es als Letzte erfahren, erst vor ein paar Tagen. Dabei ging das schon Jahrzehnte so. Hart für die Floristin, die alles unter die Leute brachte, direkt und sauber. Auch Brunas Geschichte war in ihrer Küche verhandelt worden. Die Floristin konnte einfach nichts für sich behalten. Manchmal vergass sie, wer vor ihr sass, und erzählte der Staunenden den neusten Klatsch über sie selber. Manchmal fasste sie sich kurz für die, die nicht ewig Zeit hatten. Hier ein wenig gestrafft und dramatisiert, dort eine Pause. In drei Minuten war die Herrlichkeit des Absturzes zelebriert. Jetzt kamen die Nachbarn dran, deren Kinder, eine Brut, sage ich euch. Aber das wussten wir schon, und auch, dass sie über sich erzählte, die Floristin goss ihren eigenen Dreck über alle aus, die ihr zuhörten. Sie war da ungezwungen. Bruna hätte jetzt gerne Radio gehört, aber auf dem Pass gab es keinen Empfang weit und breit, auch ihr Nokia war ausser Betrieb. Auf der anderen Seite, im Norden, nach dem Palpuogna-See würde es wieder klappen. Da konnte man Nachrichten hören, ganz normal.
Giains a palpuogner. Gehen wir palpuognieren, hatte der Fettsack gesagt, als sie in der zweiten Klasse war. Das Wort puogn heisst zu Deutsch Faust, einfach zur Information. Vorher hatte sie den See gar nicht wahrgenommen, il Lej da Palpuogna. Palpuogna, das klang wie eine Beerensorte in ihrem Ohr, würzige Beeren, Bergobst. Woher kam eigentlich diese Smaragdfarbe des Wassers im Sommer? Hätte es nicht rötlich sein müssen oder violett? Hatte da einer Farbe in den See geschüttet, Spinatsaft, wie die Freundin und sie nächtlich zentrifugiert hatten, um den Zweig der Friedenstaube einzufärben, die sie zur Ski-Weltmeisterschaft in den Schnee gezeichnet hatten? Ökologisch korrekt. Schön, dass die Kamera in Wettkampfpausen darauf fuhr. Ihr Peace 2003 als Standbild. Lasst Bagdad in Ruhe, den Hof von Harun al-Raschid, Kalif aus 1001 Nacht. Das Buch gehörte der Mutter, Bruna hielt es im Zimmer versteckt. Sie liebte die Geschichten. Ihre Mutter hatte der Freundin und ihr geholfen, den Schnee zu stampfen, für den Frieden, obwohl Bruna das Buch nie zurückgegeben hatte. Heute ist Backtag, morgen ist Brautag, übermorgen ist kein Tag, da hole ich mein Buch. Ich wohne im grossen dicken Wald, am Tag als Katze, in der Nacht als Eule. Nur abends bin ich ein Mensch. Da rauche ich eine Zigarette auf dem Balkon. Bruna hatte die Mutter gefragt, wer der schönste Mensch sei, den sie je gesehen habe. Es war ein kleines Mädchen, sagte die Mutter, es sass hinten auf dem Planwagen, als die ungekämmten Nomaden durch mein Heimatdorf fuhren. Unvergesslich blitzende dunkle Augen. Bruna hatte auch dunkle Augen, sie bildete sich ein, die Mutter meine sie.
Der Palpuogna-See, vielen galt er als Kraftort. Das stand in einem Buch. Esoterischer Plunder. Hier war die grüne Fee geboren, um mit ihrem Absinth-Gesöff die mit Blindheit zu strafen, die hofften, der Fee unter den Rock zu greifen. So war das. Fast wie die Nixe aus dem Marmorera-See, der auf der anderen Seite lag, westlich. Die Nixe, die tanzte und die Fischer zu sich riss und in ihren Netzen auf den Grund zog, weil das Dorf geflutet worden war, die Frauen mussten es dulden, sie hatten noch kein Wahlrecht. Fee und Nixe, originell war das nicht. Aber man wollte ihre Geschichte trotzdem erzählen. Jeder Landschaft seine Mörderin. Schön muss sie sein und jung, zornig, bald tot oder nie. Die Mutter war auch schön gewesen. Ihr helles Gesicht hatte über Lederschweiss und Schuhwichse gethront, ihre Augen waren rehbraun. Gab es Töchter, die sich dem enttäuschten Blick der Mutter stellten? Gab es eine einzige Tochter auf der Welt, die das tat?
Bruna drehte an ihrem Ring. Sie trug ihn am Mittelfinger, seit er passte. Der Fettsack hatte gesagt, der Smaragd stamme aus Indien und habe einer Tempeltänzerin gehört. Man weiss ja, was in den Tempeln so abging. Der Smaragd war gross und sehr grün, die goldene Fassung in 24 Karat weich und mit Emailgeschlängel eingefasst, eine Legierung, sie glänzte rubinrot. Auf der Ringschiene links und rechts des Steins kleine Blätter, rot und grün. Früher hatte Bruna ihre Nägel blutig gekaut. Jetzt strich sie dauernd mit dem Daumen an der Innenseite des Mittelfingers entlang, die Fläche war rau und schmerzte, aber sie konnte nicht aufhören. Sie dachte an die Mutter, wie die beim Rauchen auf dem Balkon mit dem Zeigefinger über den Daumennagel fuhr, ununterbrochen. Die Bewegung lief wie ein Pausensignal. Wenn die Mutter den Zeigefinger einzog, war die Zigarette fertig, die Zeit abgelaufen.
Bruna hatte den Zündschlüssel bereits ein Dutzend Mal vergeblich im Schloss gedreht und nach dem Pullover gesucht. Gefunden hatte sie unter dem Beifahrersitz den kleinen weissgepunkteten Schirm mit den Rüschen, ein Geschenk von Kurt. Damit du nie ein armer Tropf bist, hatte er gesagt. Das klang jetzt wie ein Scherz. Sie schraubte am Blaupunkt-Radio herum, kein Empfang. Das wusste sie doch längst. Alle wussten es. Wenn dir auf dem Pass etwas passiert, bist du verloren. In einem Film wäre jetzt Musik da. Welche Musik würde zu ihrem Tod passen? Hells Bells von AC/DC oder doch besser Mozarts Requiem? Auf keinen Fall ABBA! Wie absurd. Sie lachte darüber viel zu laut, und in diesem Moment erblickte sie die Mutter im Rückspiegel. Sie sass breitbeinig im Fond und packte ihr Sandwich aus, es raschelte und raschelte, das Metzgerpapier, so gross konnte kein Käsebrot sein. Die Mutter liebte Metzgerpapier, hautfarben, innen glänzend, vor allem für fettige Käsebrote. Sie strich seit Jahren zuviel Butter aufs Brot. Der Käse lag in der Butter wie in einer Federdecke, die nachgab. Die Mutter drückte den Käse in die Masse. Auch Brunas Pausenbrote waren so gewesen. Plötzlich schrie die Mutter auf. Ja, Mutter, das Nussbrot, das du immer haben musst, es hat Nüsse drin, und das vom Bäcker an der Hauptstrasse besonders. Die Mutter hatte schon zwei Plomben verloren und behauptete, seit letztem Jahr wackle ein Zahn. Dann musst du halt ein wenig vorsichtiger essen. Es kann immer Schale drin sein.
Bruna überlegte, wie sie die Mutter umbringen könnte. Viel Gerät war nicht da. Eine Parkscheibe aus Karton, nutzlos, der Plastikordner mit den Unterlagen, Fahrausweis - der blöde Hund von Garagist sagte dazu nach fünfundzwanzig Jahren Dorf immer noch Führerschein -, ein zweiter Regenschirm, billig, darauf stand: Mobility Car Sharing, im Stauraum ein Erstehilfekoffer, die Schere viel zu klein, das reichte nie. Verbandszeug reisst. Autoschlüssel, zwei Bravo-CDs, die konnte Bruna nicht mehr hören, eine orange Weste, falls in Italien etwas passiert. Sie sah die Mutter auf der Toilette des Autogrill in Parma, tot, mit einer Sicherheitsweste bekleidet. In der Handtasche fand Bruna Zitronenmelissen-Bonbons, eine Cola Zero, das Portemonnaie, Taschentücher mit Mentholgeruch, fertig. Sie könnte die Mutter erwürgen, aber die war ziemlich stark wegen der Gartenarbeit. Bruna hatte das Powerplate-Training abgebrochen. Jetzt bereute sie es. Sie war viel zu leicht. Im Gegensatz zur Mutter konnte sie den Chips widerstehen, ausser den Salt and Vinegar von Walker, aber die kaufte sie nicht. Sie könnte die Mutter mit einem Faustschlag überraschen und benommen machen. Aber ein Faustschlag ins Gesicht brauchte Mut oder Brutalität. Bruna war weder mutig noch brutal. Sie wollte die Mutter einfach nur umbringen, so selbstverständlich wie im Tatort am Sonntagabend sollte das laufen. Bruna dachte an Hauptkommissar Faber aus Dortmund, den mochte sie. Brunas Mund war trocken. Sie trank die Cola Zero leer. Jetzt hatte sie Lust, die Flasche aus dem Auto zu schmeissen und auszusteigen. Wäre das ein schräges Bild, sie und eine Cola-Flasche in der Einöde. Aber Bruna hatte den Fotoapparat nicht dabei, ihr Schrotttelefon konnte keine Fotos machen. Sie schaute in den Rückspiegel.
Als Kind hatte sie viel gezeichnet. Sie hatte jetzt Lust zu zeichnen, aber es war kein Papier da, kein Bleistift. Als Kind hatte sie wie besessen Strichmännchen auf Zettel gezeichnet und die Zettel in leere Zündholzschachteln gesteckt, darüber jeden Abend und jeden Morgen gebetet. Bitte Gott, lass meine Wünsche wahr werden, du kennst doch den Zorn. Halb totgeschlagen, verdreht, und dann erhängt, geköpft, zersägt, verbrannt wollte sie ihn wissen. Bitte, Gott, lass es geschehen. Sie sah sich auf seiner Asche herumstampfen wie auf einem schlecht gefederten Trampolin, auf seinen Versprechen, seinem Drohen. Walzer tanzen würde sie auf dem, eins, zwei, drei. Jetzt kam Rhythmus in die Sache und zwar ihrer. Sie hatte in ihren Tagträumen mit ihm gesprochen. Sie beschrieb, wie seine heilen Knochen krachen, seine Gelenke knacken würden, wie er stöhnte und flehte, wie seine Bitte zu einem neuen Stoss führen würde, abrupt, als schöpferische Eruption, untermalt mit einem Lied aus der Schule, sie würde singen und dann sagen, ciao ciao, jetzt fliegst du über die Treppe. Ich schleife dich den Abhang des Spielplatzes runter, bist kein bisschen tot. Wir spielen noch zusammen, bis die Glocke läutet. Dann muss ich weg. Ich sitze pünktlich in der dritten Reihe am Fenster, zünde dich später an. Deine Augen packe ich in den Schulsack.
Zu Papier und Bleistift greifen, während er noch etwas sah und verstand. Ein Momentchen noch, ich brauche eine Skizze des Ablaufs, nicht davonrennen. Ich skizzierte und schraffierte so laut wie möglich. Ab und zu rieb der Radiergummi über das Blatt, länger als nötig. Rede verständlich, sonst kann ich dich nicht ernst nehmen. Kein Ablauf, würde er betteln, bloss kein Ablauf, nur Gefühl, schnell und heiss. Reines Gefühl willst du, ja? Du gottverdammter Sauhund. Und du da hinten auf dem Rücksitz, schmatz nicht so laut! Klappe halten! Schau zur Krete! Da rennen im Sommer die Kühe. Wie in einem Dokumentarfilm, kleine und grosse, verschiedene Rassen. In jedem Kinderkopf sollte das gespeichert sein. Und hör jetzt auf mit diesem Geschwätz über den Enkel, den du willst und nicht hast. Ich habe nicht das richtige Herz dazu. Du verstehst wieder einmal nichts.
Im Traum hatte Bruna einen Engel gesehen. Er öffnete ihre Brust und nahm das Böse heraus, eine dunkle Kruste vom Durchmesser eines Zwanzigrappenstücks. Der Engel legte das Böse in eine goldene Schale, beträufelte es mit Cola Zero und sagte, friss es! Schluck es runter! Aber sie tat es nicht, niemand konnte sie zwingen zu essen, nicht einmal im Traum. Bruna bewahrte das Böse auf in ihrer muschelförmigen Pillenbox, wo der Ring drin gewesen war. Die Pillenbox klickte so hell. Sie war aus Sterling Silver. In der obersten Schublade ihres Nachttischs stand sie. Eines Tages wird die Mutter den Herzpopel herausnehmen und zu dem Kind, das nicht ihr Enkel ist, sagen, schau, Kind, diese Frau war keinen Franken wert. Sie hiess Bruna und kam nicht einmal über den Pass.
Es war kalt geworden. In wenigen Tagen würde der Pass geschlossen. Er war nicht wintersicher. Erfrieren sei schön, hatte einer gesagt. Dass das paradox war, weil er ja offensichtlich noch lebte, kam ihm nicht in den Sinn. Bruna wollte es trotzdem glauben. Ihr Verschwinden hätte niemanden gestört, höchstens Kurt, aber er war nicht mehr in ihrem Leben. Bruna dachte an die Klimaanlage, die im Wagen eingebaut war. Sie hatte nicht nur dieses Extra für unnötig gehalten, sondern das ganze Auto, das im Frühling plötzlich auf dem Parkplatz gestanden hatte, daneben posierten die Mutter und der Garagist, sie strichen gleichzeitig über den metallic grauen Lack. Auf Brunas Fahrt nach Genua im Sommer war sie froh um die Klimaanlage gewesen, als sie auf der Tangenziale bei Mailand im Schritttempo an der Blutlache vorbeifuhr, daneben ein Motorrad und drei Stoffschuhe, zwei grosse weisse und ein kleiner roter. Das Blut war zusammengeflossen zu einem dunklen Kuss. Zum Glück war es im Auto kühl gewesen.
Bruna zitterte. Da war noch das Parfum im Handschuhfach, Rose von Paul Smith, gegen die schlechten Gerüche im Auto, eindeutig, künstlich, sehr stark, der totale Faschoduft. Damit könnte Bruna die Mutter kurz ausser Gefecht setzen. Und dann? Der Tiegel mit der grauen Farbe für die Beulen half auch nicht. Das Inventar war aufgenommen, unbrauchbar. Bruna schaute in den Rückspiegel. Die Mutter hatte inzwischen ihr Käsesandwich aufgegessen, putzte sich die Hände am Sitz ab und zog lächelnd den Kanister hervor. Sie klopfte darauf wie früher ans Glas, wenn sie eine Rede hielt vor der Familie. Bruna regte sich nicht. Die Mutter klopfte heftiger. Augen zu, Hand auf. Als Bruna die Augen öffnete, lag eine Schachtel Zündhölzer in ihrer Hand, der Kanister stand zwischen den Sitzen auf der Handbremse. Bruna zog den Kanister auf den Schoss.