Roman Marchel, südl. WALDVIERTEL (A)

Geboren 1974 in Graz, Studium der Literaturwissenschaft in Wien und Paris, lebt heute in einem kleinen Dorf im südlichen Waldviertel. Er liest auf Einladung von Arno Dusini.

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Roman Marchel
Die fröhlichen Pferde von Chauvet
Im oberen Stock ihres Hauses an der Hauptstraße (die auch früher schon großspurig diesen Namen getragen hat, noch ohne verbreiterte Gehsteige und Zebrastreifen am ampelgeregelten Fußgängerübergang herüber zur Apotheke) steht die alte Hermine Grundner auf einem Stuhl. Das ausgetrocknete Leintuch liegt auf dem Boden. Es ist ein bisschen pathetisch, das weiß sie, statt Leintuch schon wieder Leichentuch zu denken, trotzdem kann sie nur hoffen, dass sie sich in ihrer umständlichen Verbiegung nicht das Genick bricht. Das frische Leintuch ist nass und schwer, es will sich nicht aufknüpfen lassen. Dass die alte Hermine noch dazu recht klein ist und dick, dass sie geschwollene Füße hat und einen ewig verspannten Nacken vom Einschlafen im Sitzen, macht die Sache nicht leichter. Ihr Bauch ist ihr im Weg, ihre Arme sind zu kurz, sie taugt nicht zu dem Engel, den es hier eigentlich bräuchte. Als sie den zweiten Zipfel endlich mit der Vorhangstange verknotet hat, sagt sie, na, geht doch. Ihre Tochter hat ihr extra eine kleine Stehleiter vorbeigebracht, aber sie kann im Schlafzimmer kein weiteres Ding gebrauchen, das im Weg herumsteht. Sie will auch gar nicht, dass es leichter geht. Weil das gelogen wäre. Es ist nämlich nicht leicht, das Leben. Vom Türrahmen aus begutachtet sie ihr tropfendes Werk. Selbst im barmherzigen Licht des Nordfensters erinnert das graue Leintuch an alte Haut. Im schmalen Regal daneben stehen die beiden Bildbände ihres verstorbenen Schwiegersohns. Kings and Queens. Aktfotografien von greisen Männern und Frauen, aufgenommen in verschiedenen Altersheimen. Das andere, Chauvet oder Der Himmel unter Tag, ist ihr lieber. Davor steht eine nur einmal angezündete Kerze.
Unten, in der Küche, ist sie gleich besser gelaunt. Leise läuft das Radio und etwas lauter das Wasser, mit dem sie das Spülbecken füllt. Den Abwasch erledigt sie langsam, ein Mittagessen für zwei, für eineinhalb eigentlich, lässt nicht allzu viel Geschirr anfallen. Sie summt sogar ein bisschen mit. Es ist nicht ihre Musik, die Popmusik. Aber die Schlager, die sie immer so gern gehört hat, im Café, würden ihr nur die Brust einschnüren. Du wirst wieder tanzen gehn. Nein, es ist ihr lieber, dass sie nicht versteht, was da gesungen wird; sie versteht mehr als genug.
Der Rote Baron, sagt sie, mäht heute den Rasen bei Cora. Sie sagt es zu ihrem Mann. Sie war ja, sagt sie, heute da, in der Früh, da hat sie es mir erzählt. Zu uns sollte er auch wieder einmal kommen, sagt sie, zum Mähen. Schön blöd, ich hätte sie gleich darum bitten können, Cora. Na ja, ich werde sie anrufen, später. Ihr Mann ist nicht da. Sie will keine alte Frau sein, die Selbstgespräche führt. Am liebsten, denkt sie, wäre sie die fröhlichen Pferde von Chauvet. Sowas in der Art. Sie hält Chauvet für den Namen des Ortes, an dem die prähistorischen Malereien entdeckt wurden. Und die Tiere, die ihr Gedächtnis verwandelt, sind im Buch ihres Schwiegersohns zwei Stiere auf einem Vergleichsfoto aus einer anderen Höhle. Auch hat sie die Stiere beim ersten Ansehen nicht als fröhlich empfunden, sondern als überraschend freundlich. Es ist einerlei; niemand fragt die alte Hermine Grundner, wer oder was sie sein will.
Das Lustige ist, sagt sie, dass ihr Nachbar, der Höllriegel, dann auch immer mähen muss, weil seine Frau ihn antreibt, sowie der Rote Baron nur auftaucht bei Cora. Sie trocknet einen Teller ab und hält ihn prüfend hoch, auch wenn ihre Augen längst zu schwach sind, als dass sie mehr darin sehen könnte als einen blinden Spiegel. Und dann, sagt sie, mähen sie zusammen und geben das komischste Bild ab, sagt Cora, links und rechts vom Zaun. Der Höllriegel mit seinem Safarihut giftelt herüber, weil er dem Roten Baron die Schuld zuschiebt, weil er sich natürlich nicht eingesteht, was für einen Krampen er da geheiratet hat. Und auf der anderen Seite der Rote Baron, die heilige Unschuld. Nur ein einziges Mal müsste man in den hineinschauen können, hat Cora gesagt. Wir haben gelacht wie schon lange nicht mehr, in der Früh. Um halb vier, sagt Cora, kommt er heute.
Sie setzt sich auf die Eckbank beim Küchentisch, das Geschirrtuch hat sie noch in der Hand. Die Drei-Uhr-Nachrichten sind vorbei. Die Moderatorin kündigt einen neuen Hit an. Im Video lässt die Sängerin alle Hüllen fallen, das muss man sich unbedingt ansehen. Die alte Hermine Grundner schaut aus dem Fenster hinüber zur alten Linde. Mit dem Handrücken wischt sie eine Träne weg, die auf ihrer Wange nicht ist. Eine Erinnerung, die es nicht geschafft hat, wirklich aufzutauchen. Am besten, sagt sie, wirklich noch heute.
Etwa einen halben Kilometer entfernt legt Dr. Kuny fünfundzwanzig Euro auf das Telefontischchen, beschwert die Scheine mit einem Jadewürfel, in dem ein goldener Kugelschreiber steckt, und füllt in der Küche eine kleine Gießkanne mit Wasser. Von der Marmorplatte des großen Blumenfensters im Wohnzimmer geht zuverlässig eine angenehme Kühle aus. Wenn sie hinausschaut auf einen Punkt hinter ihrem Garten, gibt die Welt die störenden Grenzen ihrer Gegenwart auf, die Dinge sind dann die Dinge zu allen Zeiten. Von den Pflanzen selbst versteht sie nicht viel, sie sind ein Erbe ihres Mannes, den sie verloren hat. Länger waren sie mehr eine lästige Pflicht, bis sie verstanden hat – es war ein Tag im Winter, draußen lag Schnee – wie viel mehr von ihm, von ihrem Leben mit ihm, noch zu verlieren war. So hat sie den Pflanzen Namen gegeben, mit denen sie ihre Erinnerungen beknien kann. Eine heißt Ringelspiel von St. Kathrein. Eine andere Zimmer 213, ihre ledrigen Blätter haben braune Punkte wie Brandflecken von einer Zigarette. Den Rippenfarn nennt sie Tigerbrust.
Cora weiß, sie wird die Ereignisse, die sie mit diesen Namen verbindet, nicht vergessen. Das ist ihr kein Trost. Es geht ihr nicht um die Bilder selbst, sondern um die Gefühle, die sie als eine Art Staubschicht umgeben, die sie wegwischen muss, um sehen zu können, die sie aber nicht vollständig wegwischen darf, wenn etwas bleiben soll, zum Aufwirbeln. Noch gelingt es ihr. Am nackten Unterarm, mit dem sie ihren Sohn umklammerte, spürt sie ihrer beider Freude. Ihr Mann gegenüber, sie fühlt seinen Blick, sie sieht sich selbst aus liebenden Augen, immer schneller dreht sich das Ringelspiel, die Sorgen und Kümmernisse aus zwei Jahrzehnten verfliegen ins Nichts. Noch kehrt das Prickeln in sie zurück, das aus den Fußsohlen in ihr aufstieg, ein Gefühl, als stünde sie nackt an der Rezeption des französischen Hotels, auf Zehenspitzen, da ihr die Dame die Zimmernummer nannte, in einem Ton als wollte sie zwinkern, ihr Mann erwarte sie schon, und wie er sie oben erwartete. Sie erkennt in der Vorstellung des breitgezinkten Schellackkamms, der schwarz in der Brusttasche seines orangegelben Hemdes steckte, die bebende Verwandlung von einem Mädchen, das im Grazer Café keck zur Jukebox gehen will, um Teach me Tiger abzuspielen, in eine Frau, die (während beide durchs Fenster den Diebstahl seines Fahrrads beobachten, lachend, ohne einzuschreiten) sich einfach nicht mehr losreißen kann, von ihrem eigenen Platz in der Welt. Oder die Orchidee zum ersten Treffen mit ihren Eltern. Sie sei die Königin der Blumen. Ihr Mann konnte nicht wissen, wessen oft geäußerte Worte er da wiederholt hatte. Und da Cora jetzt eine andere Orchidee mit der Sprühflasche benebelt und sagt, ach, liebe Mundwinkelblüte, umhüllt sie der Knoblauchgeruch der gebratenen Forellen, durchfährt sie wie beim ersten Mal das Einverständnis in den zuckenden Lippen ihres Vaters.
Er ist eigentlich kein schlechter Mensch, sagt die alte Hermine Grundner. Natürlich wünscht sich keiner so einen Sohn, aber trotzdem. Und das Saufen hat er auch aufgegeben. Sie meint den Roten Baron und sie sagt es zu ihrem Mann, als säße der im offenen Kühlschrank, vor dem sie schon länger steht, weil sie vergessen hat, was sie wollte. In jedem Fall kann der alte Kaiser, sagt sie, froh sein über so einen Sohn, dass der so weit vom Stamm gefallen ist, wie ein Apfel nur kann. Sie steckt den Finger in die Streichwurst und schleckt ihn ab, schabt mit den Zähnen unter dem Fingernagel. Dann nimmt sie die Dose mit dem Katzenfutter und kann die Kühlschranktür endlich schließen. Der offene Deckel steht als gebogene Scheibe nach oben, und wenn sie ein paar Fleischklumpen mit der Gabel in den Napf kratzt, muss sie aufpassen, dass sie sich nicht wieder schneidet.
Edgar, ruft sie hinauf, noch während die Mikrowelle surrt. Minki-Minki. Der Name war die Idee ihrer Tochter. Nach irgendeinem amerikanischem Schriftsteller, weil die Katze schwarz ist. Das merkt sie sich nie, hat die alte Hermine Grundner gesagt. Außerdem ist das kein Name für eine Katz, die schreibt ja auch keine Bücher. Der Katze ist ihr Name egal, hat Cora gesagt. Aber wir brauchen ein bisschen Stil im Leben, und du wirst dir das merken, Mamschi. Du darfst nicht aufgeben, nur weil du alt bist. Das ist ganz wichtig. Ihre Tochter weiß immer, was wichtig ist, und was richtig ist genauso. Beneidenswert, wenn jemand immer alles weiß. Die ganze Katze war ja ihre Idee, nicht nur der Name.
Die alte Hermine hatte auch früher schon Katzen. Lange hat keine gelebt, wegen der Hauptstraße. Und dann tut einem nur das Herz weh. Das Leben ist nicht ewig, hat ihre Tochter gesagt. Es ist nicht wichtig, dass man sterben muss, wichtig ist, dass man bis dorthin ein schönes Leben hat. Dann hat sie zu weinen begonnen, die alte Hermine. Weil sie an Fredy denken musste (Meningitis; ein schnippischer Arzt in der Krankenhausambulanz) und weil sie nicht sicher war, ob er ein schönes Leben gehabt hatte. Und aus anderen Gründen auch, die sind in den Tränen alle ineinander verschwommen. Aber bitte, süß ist er ja, der schwarze Edgar. Und gemerkt hat sie sich den Namen auch wirklich. Minki-Minki fügt sie nur aus Prinzip hinzu, weil man sich von seinem Kind nicht alles bestimmen lassen darf.
Sie hört das Getappse auf der Treppe. Er ist eigentlich die ganze Zeit oben, Edgar, weil Katzen das spüren; das sagt man und das ist auch wahr. Nur fressen muss er weiterhin in der Küche und für sein Geschäft muss er raus, Hauptstraße hin oder her. Sie steckt den Finger ins Futter. Es soll nicht warm sein, nur eben nicht kühlschrankkalt. Ja, das ist fein, gell, sagt sie zur Katze. Glaub mir, ich kann nachfühlen, wie es dir geht. Das sagt sie zur bronzenen Jesusfigur am Holzkreuz. Sie stellt sich vor, wie sie am Kreuz hängt, mit ihrem dicken Bauch, nur im Lendenschurz. Hoffentlich, sagt sie, habe ich mich jetzt nicht versündigt. Sei froh, dass du nur eine Katz bist. Leicht ist es nämlich nicht, das Leben.
Die Orchidee hängt an einem abgesägten Baumstamm, den sie mit ihren fleischigen Wurzeln umklammert. Der stützende Draht ist kaum noch zu sehen, sie trägt momentan keine Blüten. Cora umhüllt die Blätter noch einmal mit Sprühnebel, und das Zucken ist flüchtig und deutlich zugleich in ihrem Mundwinkel.
Wie lange gelingt das noch? Einige Erinnerungen sind bereits verloren, andere verwandeln sich in gequälte Fratzen, wenn sie an ihnen zerrt. Ihr ist, als müsste sie ihr Herz dazu bringen, etwas zu werden wie ein unscharfer, vertrauender Blick. Wie soll das gehen? Sie stellt sich auf die Zehenspitzen für eine recht hoch hängende Pflanze, Die kroatische Amsel, da sieht sie, wie draußen der Rote Baron auf einem Bein im Kreis hüpft, die rechte 5
Fußspitze in der Hand. Der Rasenmäher steht mit laufendem Motor, den sie jetzt erst hört, ein paar Meter abseits. Das Brummen kann hier drinnen nicht mehr als ein Surren sein, es kommt ihr trotzdem sehr laut vor, mit einem Mal, verstärkt um ihre eigene Unruhe. Er muss etwas weggekickt haben, der Rote Baron, das schwerer war, als es ausgesehen hat. Fast eine Stunde ist er zu früh gekommen, dabei hatte sie ihm die ärgste Nachmittagshitze ersparen wollen. Und jetzt hat er sich auch noch verletzt. Das Wollen allein reicht oft nicht. Sie muss an ihren längst erwachsenen Sohn denken, wie er vor so vielen Jahren auf seinem Steckenpferd durch den Garten geritten ist, stundenlang. Ihr Kopf hat den Ton wieder ausgeschaltet. Sie sieht einen Stummfilm ohne Musik, den sie falsch versteht. Wie lange kann es noch dauern, bis ihre Erinnerungsbilder alle falsch sein werden, Freude und Schmerz verwechselt, bis ihr nichts mehr etwas Verbindliches sagen wird? Wem gehört dann ihr Leben? Das Telefon hört sie erst beim zweiten Klingeln. Das dritte rückt in eine Zukunft, die den Tod bereits hinter sich haben könnte. Der Großalarm, oft geprobt, erwischt sie am falschen Fuß. Jede Möglichkeit wird zur Hürde, im Anlaufnehmen geht es ein paar Schritte zurück in die Vergangenheit.
Dort schmatzt die Katze beim Futternapf. Einige Geleeklümpchen liegen auf dem Boden. Die alte Hermine Grundner nimmt einen Lappen. Der Arzt hat ihr geraten, die Knie zu beugen, statt sich aus dem Kreuz zu bücken, und so geht es; nicht wirklich gut, aber besser. Mit dem Herrn Doktor haben wir ein Glück, sagt sie. Du kannst weiter patzen, und ich kann mich weiter rühren. Dabei kommt er nicht einmal unseretwegen. Die Katze schaut vorwurfsvoll zu ihr auf. Ja, weiß du, sagt sie, er ist Arzt, kein Zauberer. Dann hat sie einen vorwurfsvollen Blick, die alte Hermine, sie hat ihn für den bronzenen Jesus am Holzkreuz. Du bist in Wahrheit auch kein Zauberer, und wenn du mich dafür in die Hölle schickst, scheiß ich drauf. Sie wischt wieder eine Träne von ihrer Wange, sie will nicht derb werden auf ihre alten Tage.
Von oben ein Schrei, abgehackt, polternd, als zerfiele er beim Sturz die Treppe runter in die einzelnen Wimmerlaute, aus denen er entstanden ist; und jeder einzelne will jetzt groß sein und laut, der Trupp drängt in ihr Ohr und besetzt ihren Körper. Du bist wirklich ein Arsch, sagt sie. Dann muss sie den Jesus aber am Kreuz hängen lassen, aus dem Kühlschrank nimmt sie eine eingeschweißte Ampulle, die sie gar nicht besitzen dürfte, oder zumindest nicht benutzen, ihre Tochter hat sie ihr zugesteckt wie eine Waffe oder eine unanständige Nachricht. Die Spritze ist in der Kredenzlade. Ein weiterer Schrei, der nächste Trupp, die Katze läuft die Treppe hinauf, nur sie, die alte Hermine, weiß auf einmal nicht mehr, was sie tun soll, mit den beiden Dingen in ihren Händen. Sie geht ins Arbeitszimmer und ruft ihre Tochter an.
Das dritte Klingeln wird mittendrin abgeschnitten.
Ja, bitte? – im Ton von „bitte nicht.“
Ich bin’s.
Beide sagen eine Zeitlang nichts, als ließe sich die Welt gesundschweigen.
Grüß dich, Mamschi, sagt die eine.
Ja, ich bin’s, sagt die andere.
Bitte nicht. Stumm, im Ton von „drei, zwei, eins.“
Und?
Entschuldige die Störung. Er schreit so sehr.
Wer schreit, ist nicht tot. Der Gedanke – Erleichterung oder Krampf? – muss schon am anderen Ende der Leitung gewartet haben.
Hast du es ihm gegeben?
Nein. Ich weiß nicht, wie.
Ich hab es dir ja genau erklärt.
Ja, Liebes. Nur weiß ich nicht, wie.
Soll ich kommen?
Nein, nein. Ist der Rote Baron bei dir?
Ja.
Weil ich gar nichts höre.
Was willst du denn hören?
Ich meine den Rasenmäher.
Ich glaube, Mamschi, ich komme doch lieber vorbei.
Nein, nein, Liebes. Er sollte nur auch wieder mal zu uns.
Wer?
Der Rote Baron. Das Gras ist schon so hoch.
Beide werden den Lauf der Welt nicht ändern, und keine erwartet es von der anderen. Es war der Tod ihres Bruders, der Cora zur Ärztin machte. Sie konnte Fredy nicht wieder zum Leben erwecken und ihren Mann nicht am Leben erhalten. Auch ohne gröbere Fehler wird sie das Sterben ihres Vaters nicht ewig hinauszögern können. Sie wiederholt die Anleitung vom Morgen in langsamen, einfachen Sätzen und versucht dabei möglichst wenig wie eine Volksschullehrerin zu klingen.
Entschuldigung, Dr. Kuny.
Cora dreht sich zur Haustür um.
Einen Moment, bitte, deutet sie mit der aufgestellten Handfläche. Zur Erklärung wackelt sie mit dem Telefonhörer. Auch ohne Blick auf seinen nackten Fuß hätte sie gewusst, dass der Rote Baron keiner ist, der wegen einer Kleinigkeit um ein Pflaster bittet.
Bist du noch da?
Ja, sicher, sagt Cora, obwohl das nur zur Hälfte stimmt.
Sagst du mir noch einmal den Winkel?
Wie bitte?
Von der Nadel. Bist du noch da?
Cora wiederholt die Wiederholung ihrer Anleitung. Es macht sie nervös, dass sie jetzt vor zwei Menschen nicht wie eine Volksschullehrerin klingen darf. Und als sie bemerkt, dass sie mit ihren Fingern vorführt, wie die Haut gestrafft werden muss, läuft sie rot an. Jetzt kann sie nicht anders, als fragen, ob sie damit klarkommt.
Ja, sicher, Liebes. Edgar ist auch oben.
Weil Cora nicht vor dem Roten Baron in Tränen ausbrechen will, streicht sie den letzten Satz ihrer Mutter mit einem Auflachen aus dem Protokoll. Sie wird am nächsten Tag wieder vorbeikommen. Bussi.
Der Drehsessel quietscht leise, und die alte Hermine Grundner lehnt den Kopf an den Fensterstock. Der Himmel hat die Farbe von Dingen, die früher einmal eine Farbe hatten. Er ist nicht so sehr etwas, das man sieht, als eher ein Werkzeug zum Sehen.
Ihr Mann hat sie zu sich in den Garten gerufen, er müsse ihr etwas zeigen. Im zweiten Jahr ihrer Ehe, das Haus gerade erst fertig geworden. Schau her, hat er gesagt. Dort, unter der Linde, da kommt eine Schaukel hin, für die Kinder. Und da machen wir einen Anbau. Das wird unser eigenes Kaffeehaus. Hermi & Hermi nennen wir es. Und hier an die Wand stellen wir eine Bank, da kannst du dich ausruhen zwischendurch und den Kindern zuschauen beim Fliegen. Und womit fangen wir an?, hat sie gefragt. Da hat er ihr auf den Hintern geklopft. Mit den Kindern natürlich.
Ein weiterer Schrei. Im Stiegenhaus hängt ein Spiegel. Darin sieht sie den geröteten Abdruck, den der Fensterstock an ihrer Schläfe zurückgelassen hat.
Cora liegt im Wohnzimmer und heult in den Couchpolster. Den Roten Baron hat sie hinausgeworfen. Sie bekommt den Film nicht aus dem Kopf, wie er in ihrem rosaroten Handtuch aus dem Bad kommt und vor ihr auf die Knie fällt. Seinen gestammelten Antrag erstickt sie in ihrem Schluchzen. Irgendwann bebt sie nur noch vor sich hin, ohne Tränen, stundenlang. Sie bekommt den Ton ihrer eigenen Worte nicht weg. Du bist ein Vieh, Roter Baron. Ich kämpfe um jede beschissen kleine Erinnerung an meinen Mann, mein Vater liegt im Sterben, ich weiß nicht… und du … du bist ein Rindvieh. Mit jeder Wiederholung meint sie ein bisschen mehr sich selbst. Das Klingeln des Telefons hört sie nicht. Unter dem Jadewürfel liegt noch das abgezählte Geld.
Als die alte Hermine Grundner erwacht, ist es dunkel. Sie ist im Sitzen eingeschlafen, mit den seitlich ausgestreckten Armen auf der Rückenlehne der Eckbank. Bei der Abwasch steht das Nachtmahlgeschirr.
Das ist Wissen, nicht Sehen. Ihre Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, und es wird noch dauern, bis sie den Kopf wieder bewegen kann. Die Portion ihres Mannes hat sie der Katze gegeben, wie sie es seit Wochen tut, sie kann nicht verzichten auf den Trost leerer Teller. Dann musste er raus, Edgar. Die Spritze hatte nur kurz gewirkt, nach ein paar Stunden hat er wieder zu schreien begonnen. Ihre Tochter hat nicht abgehoben, es hätte auch nichts gebracht. Sie hat sich zu ihm an den Bettrand gesetzt, seine Hand gehalten, nur hat sie wieder nichts mehr zu sagen gewusst, nach all den Selbstgesprächen. Jetzt ist es oben still, glaubt sie, vielleicht müssen aber auch ihre Ohren erst wach werden. Sie erinnert sich nicht daran, das Radio abgedreht zu haben. Langsam steht sie auf, für die Abendtoilette braucht sie keine drei Minuten. Aus der Kredenz nimmt sie die große Zuckerdose und einen Suppenlöffel. Sie füllt ein Glas mit Wasser. Ihr Blick fällt auf den Bronze-Jesus, er schimmert dunkel, irgendwas hat sie vergessen. Ohne freie Hand muss sie aufpassen, dass sie auf der Treppe nicht stürzt. Von der Vorhangstange hat sich ein Knoten gelöst, das Leintuch hängt schlapp – wie erleichtert – zu Boden. Ihr Mann hat die Augen geschlossen, aber in seinem Gesicht arbeitet der Krebs. Gleich wird er wieder schreien. Sie steht vor ihm wie ein unartiges Kind, den Löffel noch zwischen den Zähnen. Sie stellt Glas und Zuckerdose ab, geht ums Bett herum, schiebt mit dem Fuß das Leintuch gegen die Wand. Draußen macht die Ampel mit ihrem orangen Blinklicht ein Tigermuster aus Zebrastreifen und Asphalt. Vorsicht! Sie merkt, wie ein Gedanke in ihrem müden Kopf seine Bestandteile zusammensucht, und reibt sich die Augen. Bevor sie wirklich weiß, was sie tut, klettert sie wackelig auf das Bett, nimmt den Kopfpolster von ihrer Hälfte, drückt ihn dem Krebsgespenst ins Gesicht und wuchtet sich mit dem Bauch darauf. Sie spürt kaum und nur ganz kurz ein einzelnes Zucken. Sie bleibt liegen, ihr Kopf hängt über dem Boden. Durch ihre Tränen sieht sie das Glas in der eigenen Pfütze liegen. Es ist heil geblieben. Der Geruch aus der halbvollen Urinflasche steigt ihr in die Nase. Wie lange summt sie schon dieses Lied? Du wirst wieder tanzen gehn.
Sie schüttelt den Polster auf und setzt sich mit angezogenen Knien in ihre Betthälfte. Mist. Sie darf den Frieden ihres Mannes nicht stören, auch nicht ihren eigenen. Umständlich streckt sie sich nach der schönen, großen, vanillefarbenen Dose. Den Löffel findet sie in einer Deckenfalte. Erst gierig, dann langsamer schaufelt sie sich Zucker in den Mund, sie lauscht dem Knirschen der Kristalle an ihren Zähnen. Ach, Hermann, sagt sie. Eigentlich waren wir das oft wirklich, die fröhlichen Pferde von Chauvet. Das schwarze Fenster leuchtet im Blinkrhythmus immer wieder orangefarben auf, wie jede Nacht, seit die Ampel montiert wurde. Anfangs hat sie sich noch geärgert, sie hat sich gefragt, wieso man sie nicht einfach abschalten konnte. Jetzt ist sie dankbar für das Tigermuster in der Zeit, es ist ihr Schutzweg in den Schlaf. Mit der Zuckerdose auf dem Bauch rutscht sie im Bett ein Stück nach unten. Da fällt ihr ein, was sie vergessen hat. Die Katze ist noch nicht wieder im Haus. Aber heute schafft sie es nicht mehr. Auch wird es reichen, wenn sie den Arzt am nächsten Morgen verständigt.