Heinz Helle (D), BIEL/BIENNE

Geboren 1978 in München, lebt in Biel, Bienne. Studium der Philosophie in München und New York. Nebenbei arbeitete er als Texter in Werbeagenturen.

Der Autor wurde von Daniela Strigl zum Wettlesen um den Ingeborg Bachmann-Preis eingeladen.

DOWNLOAD TEXT: PDF

Heinz Helle: Foto: PrivatHeinz Helle: Foto: Privat

Heinz Helle: Wir sind schön

vorgetragen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Heinz Helle

Wir sind schön. Es geht uns gut. Wir mögen unsere
Körper, den eigenen und den jeweils anderen, andere
finden, wir sind ein schönes Paar. Wir sind glücklich. Wir
sind das, was man glücklich nennt. Wir sind das, was
alle glücklich nennen, die wir kennen. Wir haben, was
alle wollen, tun, was alle tun. Wir haben zusammen
53.374,43 Euro auf dem Konto und könnten eine
Eigentumswohnung anzahlen, eine kleine, und dann
abzahlen, langsam, nachdem wir beide feste, sichere
Jobs angenommen hätten; fest müssten sie sein für den
Kredit, und sicher wären sie aufgrund unserer
Ausbildung, unserer freundlichen, zuverlässigen Art und
unserer Erfahrung. Wir könnten in Elternzeit gehen,
Deutschland ist ein zivilisiertes Land, das seinen jungen
Eltern ermöglicht, ohne allzu große finanzielle Einbußen
junge Eltern zu sein, zumindest vorerst, später dann
nicht mehr, Kinder zu haben ist deutlich teurer, als
Kinder zu bekommen, und nach einer Elternzeit ist die
Karriere auch meistens gelaufen, aber das sagt man
ihnen nicht, den Kindern nicht, weil sie es nicht
verstehen würden, und den jungen Eltern nicht, weil es
sie im Moment nicht interessiert. Ihnen sagt man: schön.
Wir haben Sex. Zunächst mehrmals am Tag, dann
mehrmals in der Woche, dann mehrmals am
Wochenende, dann einmal pro Woche. Wir finden es
beide gut, so versichern wir einander, es wird eben
weniger, es gibt viel zu tun, wir haben Stress, und ab
und zu möchte man ja auch ein paar Freunde sehen.

Wir gehen in eine Eisdiele, wir finden einen freien Tisch,
wir setzen uns, wir bestellen Eis, obwohl ich kein Eis
mag, aber sie will, dass wir Eis essen, also will ich es
auch.
Wir gehen ins Kino. Sie ist wunderschön, sie trägt einen
Blumenrock und hat ihr langes schwarzes Haar
zurückgebunden, ich mag langes schwarzes Haar und
Blumenröcke. Im Film werden Gesichter zerschlagen,
Gehirne zerschossen und Beine abgehackt, und es gibt
einen Moment, in dem ich sie küssen könnte, als sie
sich zu mir herüberlehnt und fragt, bist du müde?, und
ich erschrecke, weil ich so sehr auf den Typen mit dem
Fleischermesser konzentriert bin, der das junge blonde
Mädchen zerschneiden will, dass ich nichts tun kann,
außer nein zu sagen, und dann lehnt sie sich wieder
zurück, und ich denke den Rest des Films, warum habe
ich sie nicht geküsst, und als Bruce Willis sagt, an old
man dies, a young woman lives, fair trade, und sich in
den Kopf schießt, habe ich Lust, mir auch in den Kopf zu
schießen und vorher etwas Cooles zu sagen.
Wir sitzen im Flugzeug, wir befinden uns in einem sehr
unruhigen Anflug auf eine thailändische Insel, und sie
hält meine Hand fest, weil sie weiß, dass ich nicht gerne
fliege, eine Formulierung, die ich gebrauche, weil ich
nicht gerne sage, dass ich Flugangst habe. Ich habe
eigentlich auch keine Flugangst, ich bin selten wirklich
nervös in Flugzeugen, wenn es nicht gerade
Turbulenzen gibt oder Araber an Bord, aber ich mag das
Gefühl der räumlichen Beengtheit nicht und das

Ausgeliefertsein. Sie hält meine Hand und blickt mich
voller Mitleid an, die Maschine zittert, und durch die
Wolken ragen die Bergspitzen der Insel. Sie drückt
meine Hand so fest, dass es weh tut, ich frage mich, ob
sie vielleicht diejenige ist, die Angst hat, und ich sehe sie
etwas genervt an, sie deutet das als Ausdruck meiner
Angst und drückt noch fester zu und nimmt auch die
zweite Hand zu Hilfe, und ich denke, was denkt wohl der
Typ neben uns. Wir landen sicher, und ich bin wütend
auf sie.
Wir liegen am Strand einer thailändischen Insel, sie lässt
sich massieren, und ich lese Sloterdijks Kritik der
zynischen Vernunft zu Ende. Ich lese die letzten drei
Seiten noch einmal, in der Hoffnung, ich wäre danach
imstande, in einem Satz zu sagen, wovon das Buch
handelt. Sie kommt von der Massage zurück, fragt, wie
das Buch war, ich sage gut, sie legt sich neben mich,
nicht zu nah, sie spürt meine Unzufriedenheit, und ich
beschließe, dass es eine Idealismuskritik ist. Ich
überlege, mit ihr darüber zu sprechen, über den
unausweichlichen Zwang aller idealistischen Systeme,
entweder offen oder verkappt sich selbst zu widerlegen,
aber ich zögere, ich weiß nicht, ob ich Angst habe, sie
könnte nicht verstehen, was ich sagen will, oder ich
könnte es nicht sagen. Am nächsten Tag reiten wir auf
einem Elefanten.
Wir sind am Tegernsee, es regnet, sie verlässt das Bett
nicht, und ich schaue aus dem Fenster. Es regnet auf
die gemütliche Holzveranda, auf der wir am Abend der
Ankunft erschöpft zusammen geraucht haben, auf die

dunkelgrün bewaldete Wand dahinter. Sie sagt, sie sei
ein bisschen krank, und ich weiß nicht, heißt das, komm
her, oder lass mich in Ruhe? Als der Regen nachlässt,
fahren wir mit dem Auto in den Ort und trinken Kaffee in
einem Lokal am Ufer, der See ist schön unter den
grauen Wolken, es geht ihr besser, sie kann wieder
rauchen. Wir reden ein bisschen und schauen raus,
dann gehen wir in den Supermarkt, und ich bekomme
einen Anruf von einem alten Freund, aber ich breche
das Gespräch ab, weil ich im Urlaub bin, mit ihr. Ich
fühle mich großzügig und loyal, als ich auflege, ich sehe
sie erwartungsvoll an, aber sie legt nur stumm ein Glas
löslichen Kaffee in den Einkaufskorb.
Wir gehen tanzen, aber ich tanze nicht, ich stehe neben
ihr an der Bar und warte darauf, dass sie tanzt. Wir
treffen ihren Exfreund, er ist fünf Jahre älter als ich, doch
ich bin noch nicht alt genug, um das als meinen Vorteil
zu empfinden. Er ist tätowiert und war früher
Fallschirmjäger. Er erzählt mir schon im zweiten Satz,
dass er seinen Job langweilig findet, und im dritten, dass
er es bei der unfassbaren Kohle, die sie ihm zahlen,
einfach nicht übers Herz bringt zu kündigen. Die beiden
gehen tanzen. Ich bleibe an der Bar und überlege, ob
ich mir vorstellen soll, was sie früher im Bett gemacht
haben, aber ich bin zu müde und sehe stattdessen kurz
in den Ausschnitt der Barfrau, ohne etwas zu bestellen.
Wir liegen im Bett, es ist mitten in der Nacht, ich habe
Bier und Schnaps und Wein getrunken, wir hatten
Freunde da, sie hat einen köstlichen Schweinebraten
gemacht, und am Schluss tanzten wir alle auf der

Couch. Sie kann nicht schlafen, weil die Worte und
Gesichter noch in ihrem Kopf lärmen, aber sie ist
glücklich und sieht mich an in der Dunkelheit, wie ich da
liege, schief, betäubt und wehrlos, sie beugt sich über
mich und flüstert mir ins Ohr, ich liebe dich. Ich tue, als
würde ich schlafen.
Wir schauen Fußball. Sie ist auch dabei. Wir schauen
Fußball, und sie ist auch dabei, denn das Wir, das
Fußball schaut, ist ein anderes als sie und ich. Wir sind
hauptsächlich Männer. Wir schauen Fußball, und sie ist
auch dabei, und die Männer, die mit mir schauen, sind
verschieden groß, alt und nah, und sie kennen mich
länger und anders und besser, als sie mich je kennen
wird, aber dieses Kennen und dieses Gekanntwerden
hat keinerlei Konsequenzen, außer der einen, einzigen,
dass wir jetzt da sind, alle zusammen, wie wir es immer
waren, aber irgendwann werden wir alle doch allein sein,
denke ich, und dann wird da niemand mehr sein außer
ihr.
Wir stehen in einem Maleratelier, es ist ein großer
Raum, wir sind viele, fünfzig, sechzig Leute, die
Leinwände, Farbtöpfe und Papierballen sind
weggeräumt, stattdessen stehen hier alte Sessel und
Säcke und Kästen mit Bier und wir. Wir tragen die
Farben der Mannschaft, die wir siegen sehen wollen, es
sind die Farben unseres Landes, und wir tragen sie mit
mehr Überzeugung, als der Ernst der Lage es erfordern
würde: Es ist ein Spiel. Wir schreien. Es ist kein Spiel.

Die anderen betreten das Feld, also die Wand des
Ateliers, sie tragen andere Farben und haben fremde
Gesichter und Schultern und Rücken und Waden, wir
kennen ihre Körper nicht so gut, wie wir die Körper der
Unsrigen kennen, ihre Gesichter, ihre Namen, ihre
Stimmen, ihren Gang.
Wir hören den Anpfiff, und wir sehen die Bewegungen
der Männer, die wir kennen wie ihre Bewegungen, wir
erkennen sie auch, wenn sie sich ohne Ball bewegen,
und wenn sie sich mit Ball bewegen, schreien wir auf.
Sie rennen, wir schreien, sie stolpern, wir schreien, sie
fallen, wir schreien, und dann stehen sie wieder auf. Wir
schreien, der Ball fliegt, wir schreien, und sie rennen und
nehmen den Ball mit nach vorn, immer weiter nach vorn,
weiter, weiter, und dann ist der Ball in genau dem Netz,
in dem wir ihn schon immer haben wollten, immer
werden haben wollen, wir schreien und springen, sie
springen und schreien und umarmen sich, schlagen
einander auf Rücken und Schultern und Brust und
reiben einander über die Köpfe und ohrfeigen einander
vor Freude, Wut, Stolz und Hass auf den gemeinsamen
Feind, und wir umarmen uns, schlagen einander auf
Rücken und Schultern und Brust und reiben einander
über die Köpfe und ohrfeigen einander vor Freude, Wut,
Stolz und Hass auf den gemeinsamen Feind, und ich
gebe ihr einen Kuss auf die Wange.
Wir schreien Deutschland. Sie auch. Wir stoßen unsere
dicken braunen Bierflaschen aneinander, so fest es
geht, ohne sie zu zerschlagen. Sie auch. Wir recken
unsere Fäuste in die Höhe. Sie auch. Wir singen, ihr

seid nur ein Punktelieferant. Sie auch. Wir singen, du
hast die Haare schön. Sie auch. Wir sehen unsere
Männer rennen, wir sehen, wie sie den anderen
zwischen die Beine springen, und wir sehen, wie ein
anderer sich vor Schmerzen auf dem Boden windet, wir
schreien Schwuchtel. Sie nimmt einen Schluck aus der
Flasche. Eigentlich mag sie kein Bier. Und dann sehen
wir, wie die anderen den Ball verlieren, wir brüllen auf,
wie eine Wand erhebt sich unser Gebrüll gegenüber der
Wand mit den flimmernden Bildern, und dann rennen
unsere Männer mit dem Ball weit in das Gebiet der
anderen hinein, dann liegt der Ball wieder in ihrem Netz,
und wir schreien, schlagen, springen und weinen. Sie
auch. Plötzlich ein Pfiff, und Schweden hat verloren, alle
rennen aufs Feld, und wir rennen und fallen und liegen
übereinander, und dann stürmen wir aus dem
Maleratelier und ziehen zur U-Bahn-Station, in unseren
Farben, sie auch, mit fliegenden Fahnen, wir stehen und
trinken und lachen, und die Bierflaschen klirren, dann
fährt die U-Bahn ein, und in ihr sitzen zwei in den
Farben der Schweden, und dann singen wir aus vollem
Hals, ihr seid nur ein Möbellieferant. Sie singt auch. Und
wir fahren nach Schwabing und ergießen uns auf die
Leopoldstraße, lösen uns in ihr auf, und auf einmal sind
alle anderen weg und sind gleichzeitig überall, die
anderen sind alle, die Farben und Fahnen und Flaschen
und Schreie, und dann ziehe ich mein Trikot aus und
stecke es mir vorn in die Hose, und hinten hinein stecke
ich meine schwarz-rot-goldene Fahne, ich klettere auf
eine Ampel, und dann sitze ich hoch oben über der
Kreuzung und halte mich fest, mit beiden Händen am
sonnenwarmen Metall, und an meinem Arsch hängt die

Fahne der Bundesrepublik, und unter mir ist ein Meer in
Schwarz-Rot-Gold, und dann schreie ich Deutschland.
Ich schreie es ein wenig leiser, als ich könnte, weil ich
weiß, sie steht irgendwo da unten, und sie schaut zu mir
hinauf und denkt, jetzt sitzt er auf einer Ampel und
schreit Deutschland.
Wir wollen raus. Raus aus dem Trott, aus der Stadt, raus
aufs Land, an einen See. Wir finden keinen Parkplatz,
überall stehen Autos in den saftigen Wiesen, halbnackte
Menschen in Schlappen schlurfen mit Decken und
Kühlboxen vorbei, es ist unerträglich heiß, und als wir
das Auto schließlich am Rand der Wiese so eng an ein
anderes quetschen, dass ich auf der Beifahrerseite
aussteigen muss, versagt der elektrische Fensterheber.
Ich nehme es zur Kenntnis, lasse das Fenster offen und
denke nicht mehr daran, aber sie macht sich Sorgen um
das Auto, um mein Auto, mir zuliebe. Ich will nur schnell
die Handtücher und die Schlappen und die
Wasserflasche und die Badehose aus dem Kofferraum
holen und dann nichts wie weg, vom Auto, von der
Wiese, aus der Sonne, zum Wasser, und dann bald
wieder vom See nach Hause, irgendwohin, wo keine
Menschen sind und die Luft nicht so aufdringlich, eine
Hitze, von der alle behaupten, sie fänden sie toll, endlich
mal wieder ein richtiger Sommer, aber ich kaufe es
keinem ab, der behauptet, es gut zu finden, wenn die
Luft um ihn herum fünf Grad heißer ist als sein Blut. Oje,
sagt sie, und sie streichelt meinen Oberarm, weil es ihr
leidtut, dass ich das Autofenster offen lassen muss, und
weil sie weiß, wie wenig ich Sonne mag, und Hitze und
Seen. Ihr Mitleid ist schön, weil es mir sagt, sie kennt

mich und mag mich trotzdem. Aber irgendwie ist es mir
auch unheimlich. Weil es mir sagt, sie kennt mich und
mag mich trotzdem.
Wir stehen am frühen Morgen in der vollen U-Bahn, wir
küssen uns, sie steigt eine Station vor mir aus. Als die
Tür wieder zugeht, blicke ich ihr nach, weil ich vermute,
dass sie sich umdrehen wird, und ich nicht will, dass sie
sich umdreht und bemerkt, dass ich ihr nicht nachblicke.
Also blicke ich ihr nach. Sie dreht sich nicht um.
Wir liegen auf dem Sofa und sehen fern und schlafen
dabei abwechselnd ein. Als wir endlich einmal beide
zugleich wach sind, beschließen wir, schlafen zu gehen.
Wir halten uns fest. Wir lassen uns los. Einer von uns
hält immer ein bisschen fester als der andere, einer von
uns lässt immer ein bisschen früher los. Wir können
nicht loslassen, wir können nicht festhalten. Wir
umkreisen uns in unberechenbaren Bahnen, und ich
liebe dich ist nur noch eine Gutenachtgeschichte. Eine
Gutenachtgeschichte, die funktioniert.
Wir beschließen, öfter schöne Dinge zu unternehmen.
Wir gehen spazieren. Vom Himmel fällt Wasser. Wir
gehen bergauf. Wir sind in einem Bergdorf in
Oberbayern, und es ist eine eigenartige Jahreszeit, um
in einem Bergdorf in Oberbayern zu sein, weil noch kein
Schnee liegt oder kein Schnee mehr, und es ist nicht
mehr warm und schön, oder noch nicht warm und noch
nicht schön. Ab und zu ist ein spektakulärer
Wolkenkörper aus etwas dunklerem Grau zu erkennen,

vor dem allgemeinen Grau, das den Hintergrund bildet.
Der Himmel sieht aus, als enthalte er noch ziemlich viel,
was er auf uns herabfallen lassen könnte. Wir tragen
Plastikjacken und festes Schuhwerk und gehen bergauf,
aber es ist noch kein richtiger Berg, und als das fallende
Wasser immer mehr wird und durch die Öffnungen
unserer Plastikjacken an unsere Haut dringt und
hinunter in unser festes Schuhwerk, biegen wir ab. Wir
biegen ab, nachdem wir zwei Stunden bergauf
gegangen sind, über leere Weiden, auf denen das
Wasser steht, als käme der Regen von unten. Wir gehen
an Zäunen entlang, die gut in Schuss sind und
normalerweise elektrisch geladen, die Wiesen sind
endlos und leicht ansteigend, dahinter ragen spärlich
bewachsene Felswände in die Wolken. Wir biegen ab,
wo auf einem Schild Klamm steht, Leutasch oder
Partnach, ehe der Weg steil wird und aus einem
Spaziergang im Regen eine Bergwanderung. Wir gehen
die Wand entlang, es hört auf zu regnen, dann fängt es
wieder an. Der Weg nähert sich der Wand oder die
Wand dem Weg, wir gehen weiter, und nach einer
halben Stunde nähert sich auch die andere Wand. Ich
frage mich, wann man eine Schlucht Klamm nennt, und
dann kommen beide Wände noch etwas näher und
richten sich auf, überheblich, und dann ist da eine kleine
braune Hütte, wir geben einem dicken Mann Geld, und
dann sind wir drin. Alles klingt hier anders, alles wirkt
anders, in einbetonierten Stahlstreben steckt Drahtseil.
Wir halten uns fest, hangeln uns am Abgrund entlang,
wo unten ein Rinnsal zu einem reißenden Fluss
geworden ist, schäumend und laut, aber ertrinken ist
hier nicht möglich, wer hier abstürzt, hat andere

Probleme als Wasser in der Lunge. Von der
überhängenden Felsdecke, unter der ich geduckt gehen
muss, sie nicht, sie ist kleiner, tropft es, auf der
gegenüber liegenden Seite wachsen Bäume in
physikalisch unmöglichen Positionen direkt aus dem
Stein. Der Himmel ist nicht mehr zu sehen, es gibt nur
noch Wand, Grün und Wasser. Wir gehen weiter, es
wird dunkler, enger, nasser, lauter, es ist schon lange
nicht mehr feststellbar, wo das Rauschen des Regens
aufhört und das Tosen des Baches beginnt oder ob das
Geräusch, das man hier hört, nur der Klang ist von Enge
und Stein, und dann bleibt sie plötzlich vor mir stehen,
dreht sich um und reißt den Mund auf, und ich schreie,
was?, und sie reißt den Mund noch einmal auf, aber ich
höre nur Enge und Stein und unmögliche Bäume, und
dann beuge ich mich zu ihr hinab und halte mein Ohr an
ihren Mund, und sie brüllt, ich bin schwanger.
Wir sind bei ihrer Mutter, und es wird beschlossen,
abzutreiben. Die Mutter beschließt. Der Vater hält sich
raus, und ich bin zu stolz und zu gelähmt von dem
bedingungslosen Bekenntnis, das ich ihr vor ein paar
Tagen gemacht habe, von meinem feierlichen Schwur,
ihr zur Seite zu stehen, wie immer sie entscheide, wir
stehen das durch, zusammen, wir ziehen gemeinsam
ein Kind groß oder holen ein Kind aus ihrem Körper
heraus und werfen es weg, und ich merke nicht, dass
ich ihr mit dem Bejahen beider Möglichkeiten zu
verstehen gebe, dass es ohnehin nichts gibt in meinem
Leben, das ich will, wirklich will, nicht mich, nicht sie,
nicht ein Kind.

Ich miete ein Auto mit Winterreifen, weil in der Nacht
Schnee gefallen ist und mein Auto nur Sommerreifen
hat, wir fahren zur Abtreibungsklinik, der Arzt ist nett und
sachlich und pragmatisch, sie schluckt eine Tablette und
trinkt Wasser, und das ist es auch schon. Dann fahre ich
mit ihr ins Haus ihrer Eltern, und wir spielen Nintendo,
drei Tage lang, Super Mario Kart, ab und zu drückt sie
auf Pause und steht auf, um totes, organisches Material
aus ihrer Vagina in die Toilette laufen zu lassen.
Wir haben Verständnis füreinander. Wir haben Wut, wir
erfahren Zurückweisung. Später reden wir so lange über
die Zurückweisung, bis sie sich auflöst in einem Hin und
Her von neuen Verhaltensmustern und alten
Gewohnheiten, wir sagen, aber das weißt du doch, dass
ich dich liebe, und dann haben wir wieder Verständnis
füreinander. Wir geben Ansprüche auf, die mit Stolz zu
tun haben oder mit Unsicherheit, und manchmal
vertreiben wir die Unsicherheit mit Sex, aber meistens
sind wir zu müde.
Wir sehen 24. Es ist drei Uhr morgens, sie schläft, wir
müssen um acht Uhr aufstehen, aber ich lege trotzdem
die nächste DVD ein und drehe noch einen Joint. Sie
schläft, ich rauche, und die Titelmusik kommt mir
plötzlich viel zu laut vor und zu pathetisch, reißerisch,
Action-mäßig eben, und Jack Bauers Foltermethoden
wiederholen sich einmal zu oft, die ultimative Bedrohung
der westlichen Welt ist einmal zu ultimativ, vielleicht bin
ich auch einfach zu müde oder bekifft, ich schalte den
Fernseher ab und lösche das Licht und küsse sie auf die
Wange und sage, gehen wir ins Bett? Sie macht, mhm?,

ich komme gleich, und wie spät ist es denn?, ein Uhr,
sage ich. Ich weiß, dass sie einschlafen wird, sobald ich
den Raum verlasse, und dass sie auf der Couch
schlafen und irgendwann später ins Bett kommen wird,
dass sie müde sein wird und enttäuscht, weil ich sie
nicht geweckt habe, und um fünf kommt sie und sagt,
wieso hast du mich nicht geweckt?
Wir verabschieden uns. Wir stehen an einer Rolltreppe.
Wir küssen uns nur noch flüchtig auf den Mund, oder
nicht mal mehr auf den Mund, auf die Wange, die Stirn
oder gar nicht. Wir umarmen uns weniger fest, weniger
lang, lassen uns los, einer früher als der andere. Wir
sehen uns in die Augen im Moment des Wegdrehens,
wir senken den Blick, ehe er abreißt, damit uns unser
Auseinandergehen wie die autonome Entscheidung
reifer Persönlichkeiten vorkommt und nicht wie die
logische Konsequenz von Körpern in Bewegung, Atome
in Gas. Vorher reden wir noch einmal über alles. Über
Gründe, die es nicht gibt, für Verhaltensweisen, die für
mich keine Bedeutung haben, doch für sie eine große
oder umgekehrt, oder über Verhaltensweisen, deren
Bedeutungen sie oder ich nicht erkannte oder erkennen
wollte, aus Unvermögen oder Angst oder Hoffnung, im
Festhalten und Glauben an eine Welt, die wir uns
ausgedacht haben, vor langer Zeit. Wir stehen an einer
Rolltreppe, sie fragt nichts, ich sage nichts, und wir
stehen einfach nur da. Irgendwann gehen wir los, wir
fahren die Rolltreppe hinunter, wir gehen durch das
Zwischengeschoss, vorbei an Menschen, die nichts
wissen, gar nichts, wir fahren auch die nächste
Rolltreppe hinunter, und dann stehen wir schweigend

zusammen am Gleis, und in ihren Augen ist Zuversicht
und eine Klarheit, die mich tröstet, und noch etwas
anderes, ich weiß nicht genau, was es ist, und wir
warten und sehen uns an, und mein Zug kommt zuerst.