Stefan Moster, Espoo (FIN)

Geboren 1964 in Mainz, lebt Stefan Moster lebt seit 2002 in Espoo (Finnland), der unmittelbar an Helsinki angrenzenden zweitgrößten Stadt des Landes.

Stefan Moster wurde vom Juryvorsitzenden Burkhard Spinnen für die TDDL 2012 vorgeschlagen.

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Stefan Moster
DER HUND VON SALONIKI
vorgetragen bei den 36.Tagen der deutschsprachigen Literatur
© Stefan Moster

Als ich den Fuß auf die Treppe setzte, die vom Strand zur Stadt hinaufführte, blieb er stehen. Langsam ließ er die Ohren sinken, dann auch den Kopf fallen, resigniert, enttäuscht, hätte man gesagt, wäre er ein Mensch gewesen, aber er war ein Hund, sodass man nicht wusste, was er empfand. Womöglich setzte in dem Augenblick, da ich ihn Stufe für Stufe hinter mir ließ, bei ihm schon das Vergessen ein. Hunde, heißt es, besitzen kein Zeitgefühl, vielleicht kommt das Vergessen bei ihnen abrupt.
Auf der obersten Treppenstufe schaute ich noch einmal zurück. Der Hund hatte sich abgewandt und trabte in die Richtung, aus der wir gekommen waren; auf dem ungeheuer breiten, so früh am Morgen grau gebeizten Strand lief er nach Osten, dabei schräg die Wasserlinie ansteuernd. Ich war jung und sentimental, ich dachte, was für eine Schlussszene, und schon erfüllte mich die Melancholie des Achtzehnjährigen, weshalb ich mich anschließend in den Straßen von Saloniki fühlte wie der Held des Films, den ich im Kopf gerade drehte. Der Umstand, dass ich barfuß ging, verstärkte meine melodramatische Gestimmtheit noch, ich würde den Hund, der sich so traurig trollte, nie vergessen, und den Kampf mit ihm schon gar nicht, dachte ich, und als ich später an der Ausfallstraße darauf wartete, von irgendjemandem irgendwohin mitgenommen zu werden, führte ich mir das Geschehen vom Erwachen durch den Hundebiss bis zum Abschied an der Treppe immer wieder vor Augen, um später davon erzählen zu können. Undenkbar, eine solche Geschichte je zu verlieren.

Dass ich sie verloren hatte, erkannte ich dreißig Jahre später und ein Land weiter östlich. Der Schreck über meine Vergesslichkeit wurde durch das Zucken eines Muskels meiner Tochter ausgelöst, des Muskels, der Schulter und Hals verbindet, denn dort lag meine Hand, als wir am Ufer des Goldenen Horns entlangschlenderten, auf dem Weg zum Schiffsanleger Sirkeci. Ich probierte die Rolle des stolzen Vaters, was sich auf meine Körperhaltung auswirkte, ich trug das Kinn höher und die Schultern breiter als gewöhnlich und bildete mir ein, in der linken Hosentasche eine Glasperlenkette durch die Finger laufen zu lassen. Meine Tochter schien mir kaum weniger stolz zu gehen, jedenfalls hatte sie bereitwillig den Rhythmus meiner Schritte angenommen und fand es offenbar nicht störend, ein Kopftuch zu tragen. Neben dem neuen Stolz und Einvernehmen verband uns die Mattigkeit des Mittags, wir blinzelten auf das Glitzern und sahen uns nach einer Bank zum Ausruhen um. Bis der Halsmuskel unter meiner Hand zuckte und sich gleich darauf anhaltend verkrampfte.
Meine Tochter blieb stehen, erstarrte, drehte sich zu mir um, mit offenem Mund, stumm vor Empörung.
Inzwischen hatte ich erkannt, was ihr den Atem nahm. Am Ufer aufgereiht standen junge Männer und warfen Hunde ins Wasser.
Sie packten die Tiere umstandslos, hoben sie übers Geländer und schleuderten sie wie Gegenstände die Ufermauer hinab. Wenn sie ergriffen wurden, zappelten die Hunde, wehrten sich, doch während des Flugs hielten sie still, gespannt auf das, was kommen würde, und was kam, war der harte Aufprall, war ein kurzes Untertauchen und gleich darauf der Drang, sich ans Ufer zu retten. Sobald ein Hund wieder auf festem Boden stand, schüttelte er sich, dass es nass in alle Richtungen stob, dann trabte er die Treppe hinauf und begab sich, wenn auch auf den letzten Metern zögerlich, ausgerechnet zu seinem Peiniger zurück.
Meine Tochter mochte nicht glauben, was sie sah, ihre Fassungslosigkeit war vollkommen, als sich ein Hund erneut vom selben Mann ergreifen und ein zweites Mal ins Wasser schleudern ließ.
Natürlich fragte sie mich, warum tun die das, und natürlich fand oder erfand ich eine Antwort: Um ihren Hunden die Flöhe aus dem Fell zu spülen.
Meine Worte vermochten die Spannung im Halsmuskel meiner Tochter nicht zu lösen, ich zog die Hand weg, weil sie mir grob erschien wie meine Antwort. „Wie kann man das tun“, empörte sich meine Tochter noch Minuten später, als wir bereits unser Schiff ansteuerten, „ein normaler Mensch bringt es doch nicht übers Herz, einen Hund ins Meer zu werfen, und auch noch mit Schwung, die sind doch krank, und wenn nicht krank, dann böse!“
Sie suchte mit geweiteten Augen Bestätigung, doch ich enttäuschte sie, indem ich die jungen Männer am Kai verteidigte, von räudigen Hunden und Krankheitserregern sprach, mir etwas zusammenreimte von Tierliebe, die sich auch in pragmatischem Handeln äußern könne, und natürlich wurde meine Rede immer hastiger, je mehr sich der von lila Rohseide umrahmte Blick meiner Tochter verfinsterte, ich ziehe mir ihre Verachtung zu, konnte ich gerade noch denken, als sie sich auch schon von mir abwandte, in die Menge eintauchte und sich vom Gedränge auf die Fähre führen ließ, die uns auf die asiatische Seite übersetzen sollte.
Ich hätte Zuspruch aufbringen müssen, doch war mein Sinn für Beistand außer Kraft gesetzt, weil mir beim Anblick der rabiaten Männer an der Ufermauer der Hund von Saloniki in den Sinn gekommen war und ich erkennen musste, dass ich jene Szene, die mir damals wie ein unauslöschlicher Bestandteil meiner künftigen Lebenserinnerung erschienen war, vollkommen vergessen hatte.
Das Kopftuch meines schmalen Mädchens leuchtete zwischen den Passagieren, ich folgte ihr mit Abstand aufs überdachte Achterschiff, wo sie sich an die Reling stellte und das Kielwasser betrachtete. Möglicherweise zeigten sich Delphine, wie oft im Bosporus, warum nicht heute, die Freude darüber würde ihren Unmut mildern, und sie würde gar nicht anders können, als sich nach mir umzudrehen. Ich setzte mich zwischen zwei Fremden auf eine Bank, hoffte auf die Delphine, gab mir Mühe, mich mit der Aussicht auf die sieben Moscheen auf den sieben Hügeln abzulenken, doch der Schreck darüber, das Unvergessliche vergessen zu haben, ließ mich nicht los, denn war dieser Anblick der bald Siebzehnjährigen mit dem lila Kopftuch an der Reling der Bosporusfähre nicht auch unvergesslich, eine kleine Lebenskostbarkeit, die ich nie wieder hergäbe?

Der Hund von Saloniki biss sich in den Erschöpfungsschlaf, dem ich mich nach langer Reise wehrlos unter freiem Himmel hingegeben hatte.
Drei Tage zuvor hatte mir mein Vater mehrere Hundert Mark in die Hand gedrückt, damit ich mir ein Interrail-Ticket kaufte, mein Abiturgeschenk. Doch ich fuhr nicht zum Bahnhof, sondern mit dem Bus zur Autobahnauffahrt, wo ich mich mit dem Mädchen traf, das meine Eltern nicht kannten und von dem sie folglich auch nicht wussten, dass es erst siebzehn war, die Reise unter dem Vorwand eines Jugendlageraufenthalts im Westerwald antrat und sich kein Interrail-Ticket leisten konnte, weshalb ich ihr das Geld für meine Bahnfahrkarte als Reisekasse an die Autobahn mitbrachte, wo wir nach mehrminütigem Kuss den Daumen raushielten, wie es damals hieß.
Allein wäre Charlotte, die große Langhaarige, schneller weggekommen; ein Paar mit zwei sperrigen Rucksäcken musste sich gedulden. Trotzdem schafften wir es noch am selben Tag bis in die Karawanken und krochen nach Einbruch der Dunkelheit im Heckkasten eines R 4 den Wurzenpass hinauf, im Rücken zweier männlicher Marihuanaraucher, die abwechselnd flehten und fluchten, weil bis zuletzt nicht sicher schien, ob ihr motorschwaches Auto die achtzehnprozentige Steigung zur Grenze hinauf schaffen würde, zumal Charlotte, ich und unsere Rucksäcke für zusätzlichen Ballast sorgten. Am Straßenrand lauerten Allradfahrzeuge auf Abschleppbedürftige, und gegen eine horrende Gebühr solche Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, war die große Angst unserer Gastgeber, der wir jedoch keine Aufmerksamkeit schenkten, denn wir lagen auf der Schaumstoffmatratze und küssten uns bereits seit Villach.
Die beiden Männer trugen enorme, süßlich riechende Haare und waren auf dem Weg nach Griechenland wie wir, doch mochten sie nicht länger ein Jungpärchen in ihrer Sänfte beherbergen, weswegen sie uns nach Erklimmen des Passes kurzerhand auf die Straße setzten, bei strömendem Regen. So passierten wir zu Fuß die Grenze und sprachen unmittelbar hinterm Schlagbaum eine Fahrzeugbesatzung nach der anderen an, jede Menge Volk, dem wir uns zugehörig fühlten, mit dem üblichen Aufklebersortiment am Wagen, nein danke dies, ja bitte das, legalize it und Petting statt Pershing - Leute mit der richtigen Einstellung; wir staunten sehr darüber, dass sie uns ignorierten. Nach vier, fünf Stunden bekamen sogar die jugoslawischen Grenzer Mitleid und lächelten uns aufmunternd zu, bis lange nach Mitternacht die Insassen eines bunt bemalten Bundeswehrfahrzeugs Erbarmen hatten und uns bis Ljubljana mitnahmen, obgleich auch sie, die Angehörigen einer Wohngemeinschaft aus Ingelheim, sich auf dem Weg nach Griechenland befanden.
Charlotte mochte mich vor Kälte, Groll und Müdigkeit während der kurzen Etappe nicht einmal flüchtig küssen.
In Ljubljana hörte immerhin der Regen auf und wir fanden im erstbesten Park Schlaf, freilich, wie sich nach Anbruch des Morgens zeigte, an ungünstiger Stelle, da sich der Park als Rasenstück unmittelbar vor dem Eingang einer Fabrik entpuppte und die gesamte Frühschicht gezwungen war, über uns hinwegzusteigen, um ans Fließband zu gelangen.
Charlotte schämte sich und hatte Hunger, Vollkornbrot war morgens um sechs in Jugoslawien nicht aufzutreiben, auch um sieben und um acht nicht, schließlich musste weißes Brot genügen, und es genügte auch, denn als wir an der vielspurigen Straße standen, von der man uns gesagt hatte, sie führe direkt zum Autoput und also entlang der Balkanküste bis nach Griechenland hinunter, schoss wieder Euphorie in Charlottes Adern und sie schlängelte sich beim Küssen auf eine Art um mich herum, dass die vorbeiknatternden Ladas fast ohne Ausnahme hupten.
Bloß halten wollte keiner.
Vier Stunden später zog ich los, um Proviant zu holen. Nach weiteren vier Stunden und vierzigtausend Ladas stellte mich Charlotte vor die Wahl, sie zum Bahnhof zu begleiten oder nie wiederzusehen.
Natürlich ging ich mit, trotzdem sah ich sie an diesem Tag zum letzten Mal.
Zwei Frauen in lila Latzhosen beobachteten im Bahnhofscafé unseren Streit, sahen Charlotte vom Tisch aufspringen und zur Toilette rennen, nachdem ich nur einen Augenblick lang ihr Handgelenk etwas zu fest gedrückt hatte, folgten ihr, führten sie eine Viertelstunde später zu ihrem mit Aufklebern verzierten Kleinbus und retteten sie für immer aus meinen Klauen.
Zum Glück war ich jung und hielt es darum nicht lange im Selbstmitleid aus. Ich riss das Buch, das Charlotte mir geliehen hatte, aus dem Rucksack, warf es in den Müll, damit er auf der nächsten Halde verrottete, der ohnehin schon tote Märchenprinz, und wenige Stunden später drängte ich mich ohne Fahrkarte in den überfüllten Zug, der über Belgrad und Skopje nach Thessaloniki fahren und dafür unglaublich lange brauchen sollte.
Ich stand auf dem Gang, ich saß auf dem Gang, lag irgendwann auch auf dem Gang, zwischen lauter anderen, die mir ähnlich waren, doch kein Interesse zeigten, sich mit mir abzugeben, dann kam der Mann mit dem Getränkewagen, einer Wanne auf Rädern, gefüllt mit Eiswürfeln, zwischen denen Coca-Cola-Flaschen steckten, Schmelzwasser rann herab, wir zogen uns an den Gepäckgittern hoch, damit er vorankam, der Wagen, der einen nassen Boden hinterließ, auf dem niemand mehr liegen wollte. In den folgenden Stunden staunte ich darüber, wie quälend es war, als müder Mensch nur stehen zu können. Es war so quälend, dass ich nach Mitternacht keine Hemmung mehr hatte, mich auf der Toilette einzuschließen und mich, um die Schüssel gewinkelt, auf den Boden zu legen.
Im Morgengrauen holten mich Uniformierte unter Einsatz eines Vierkantschlüssels heraus. Sie wirkten irritiert, als sie eine gültige Fahrkarte bei mir fanden. Ich hatte sie kurz nach Belgrad gekauft, weil es mir nicht länger gelungen war, der Kontrolle auszuweichen. Mir schmerzten alle Glieder und ich roch unangenehm, wie mir das Verhalten der Mitreisenden verriet.
So kam ich mir nach der Ankunft in Thessaloniki in der erstaunlichen griechischen Helligkeit und Hitze vollkommen verlassen vor. Ich war in einer Welt gelandet, in der mehrere Sonnen schienen. Mein Gepäck nahm mit jedem Schritt an Gewicht zu, Durst und Hunger sperrten in mir den Rachen auf, was mich auf den Gedanken brachte, dass ich ja kein Ziel hatte und mich darum nirgendwo hinzuschleppen brauchte. Ich blieb einfach stehen, erblickte ein Lokal, vor dem ein Koch stand, und steuerte ihn an. Sobald ich nah genug herangekommen war, warf er ein Lächeln nach mir aus, dem ich prompt an den Haken ging, obwohl ich im selben Moment die Flecken auf seinem Hemd sowie die Mottenlöcher in der Baumwolle erkannte und überdies sah, dass über dem beleibten Mann Insekten kreisten wie in einem Comic. Es brummte und schillerte ununterbrochen um seinen Kopf, noch während er mich in die Küche führte, die unterste Ofenschublade aufzog und mir einen Auflauf präsentierte, der dort mutmaßlich seit Tagen schmorte.

Auf dem Weg zum Meer dachte ich den Satz, „die Sonnen stehen im Zenit“, und gleich darauf dachte ich schon, ich fantasiere, das Essen aus der Ofenschublade beanspruchte alle Organe, ich hatte das Gefühl, eine Fabrik mit mir herumzutragen, in der energieaufwändige Prozesse abliefen. Die Nahrung raubte meinem Körper die letzten Kräfte, anstatt ihn zu stärken, ich muss schlafen, dachte ich, schlafen, ich muss zum Strand, um dort zu schlafen. Ich ließ mir den Weg zum Wasser zeigen, es war nicht weit, doch war es abgezäuntes Wasser in Hafenbecken, dann Wasser vor einer Uferpromenade im Blickfeld hoher Häuser und unter dem Lärm mehrerer Fahrbahnen, die Hitze schien die Zeit zu dehnen, ich murmelte noch immer „die Sonnen stehen im Zenit“, als die eine den Zenit bereits verlassen hatte. Es wurde Nachmittag, bis ich einen Strand erreichte, wo mir der Abstand von den Häusern das Gefühl gab, sicher zu sein.
Ich breitete meinen Schlafsack aus, schob mich hinein und hörte Charlottes Stimme: „Es war einmal einer, der hatte niemanden und nichts...“
So fing das Kinderbuch für Erwachsene an, das sie mir zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und da ihr das Geld fehlte, es mir zu kaufen, nahm sie mich in die Buchhandlung mit und las es mir im Schatten der Regale flüsternd vor, ihr Mund bei jedem zweiten Satz so dicht an meinem Ohr, dass die Muschel warm und feucht beschlug. Sie las von einem Mann, der nichts besaß, dennoch eine Frau fand, bald ein Kind mit ihr zeugte, sie, gedrängt von seiner Vagabundennatur, im Frühling aber verließ, mit dem Versprechen, im Herbst zurückzukehren, was die Mutter dem Kind mit dem Satz erklärte, einer, der wiederkommen solle, müsse zuvor weggegangen sein.
Halb traurig, halb verständlich kam mir das im Halbschlaf am Strand von Saloniki vor, ich versuchte darüber nachzudenken, um der Angst, die mich beschlich, etwas entgegenzusetzen. Es gingen Menschen über den Strand, nicht viele und in großem Abstand zu meinem Lagerplatz, doch woher wollte ich wissen, ob nicht irgendwann im Lauf des Abends oder der Nacht welche mit finsteren Absichten darunter waren, darum nahm ich Portemonnaie und Pass aus meinem Gepäck und steckte sie mir zwischen die Beine. „Es war einmal einer, der hatte niemanden und nichts“, sagte ich innerlich vor mich hin, als wäre es ein tröstlicher Satz, versuchte mich auf das Geräusch des Meeres zu konzentrieren, um mich einwiegen zu lassen, zuckte trotzdem jedes Mal zusammen, wenn eine menschliche Stimme zu mir herübergeweht wurde, und schlief dann doch irgendwann ein, weil die Müdigkeit die Angst am Ende vollkommen zersetzt hatte.
Das Einschlafen hatte sich lange hingezogen, das Erwachen kam abrupt, mit einem Biss. Ich schlug die Augen auf, wusste sogleich, dass ich durch einen Schreck erwachte, setzte mich auf und sah den Grund des Schrecks: den Hund, der sich durch den Schlafsackstoff hindurch in meinem Bein verbissen hatte.
Er benötigte die ganze Spannweite seiner Kiefer, um meinen Oberschenkel zu umfassen, aus seiner Kehle drang ein anhaltender, monotoner Laut. Es war ein kniehoher Hund von nicht bestimmbarer Rasse, ein Streuner zweifellos, vermutlich voller Schmutz und Ungeziefer, und er lenkte alle Energie in seinen Biss, so sehr, dass seine Beine zitterten und der hintere Teil des Rumpfes hin und her zuckte wie unter Strom.
Am Abend hatte ich die Menschen gefürchtet, jetzt blickte ich mich Hilfe suchend nach ihnen um, doch sah ich niemanden. Es musste noch sehr früh am Morgen sein, es herrschte graues Licht, das an die nasse Haut eines Delphins erinnerte, und in diesem Licht zeichnete sich auf dem ganzen unwahrscheinlich langen, breiten Strand nirgends eine Silhouette ab.
Kaum hatte ich begriffen, dass ich auf mich allein gestellt war, spürte ich den Schmerz. Das half mir, etwas zu unternehmen. Ich sprach den Hund an, zunehmend lauter, bis ich schrie, doch ohne Folgen. Ich streckte eine Hand nach ihm aus, berührte ihn, stupste ihn an, stieß ihn, was ebensowenig wirkte. Die Schmerzen nahmen zu, ich packte Ober- und Unterkiefer des Hundes, bog sie mit Gewalt einige Millimeter auseinander, genug, um meinen Oberschenkel aus der Zange zu befreien, sofort schlug der monotone Hundeton in hysterisches Jaulen um, dann, als ich losließ, in wütendes Bellen und gleich darauf in grimmiges Knurren, im selben Moment, in dem er sich erneut auf mich stürzte.
Hundespeichel war mir auf die Hand getrieft, mich ekelte, und meine Aggression wuchs weiter. Wieder packte ich das Tier, noch gröber als zuvor, entschlossen nun, mit ihm zu kämpfen, ihm gar die Kiefer aus den Angeln zu reißen, ich hielt es fest, befreite mich durch Tritte von meinem Schlafsack; jetzt verspürte der Hund noch stärkere Lust, in mein Bein zu beißen, oder es zu fressen, er entwand sich mir, ich erwischte ihn gerade noch am Hals, bevor er mir die Zähne ins Gewebe schlagen konnte, er wimmerte, als ich zudrückte, aufstand und ihn weit von mir warf. Damit war ich ihn jedoch nicht los, er schüttelte sich nach der Landung kurz und rannte erneut auf mich zu, ich trat nach ihm, traf ihn mit dem zweiten Tritt, trat noch einmal zu, worauf er zurückwich, mich schief von unten ansah und sich schon zu trollen schien, es sich dann aber anders überlegte und mich ansprang, sobald ich ihm den Rücken kehrte.
In dem Moment, in dem er mein Bein wieder im Biss hatte, sah ich, dass kein Gepäck mehr neben meinem Schlafsack auf dem Strand lag. Man hatte mich bestohlen, mir außer dem Geld und dem Pass zwischen den Beinen alles weggenommen, auch die Schuhe, ich hatte nichts und niemanden, alleine und beraubt stand ich auf einem grauen Strand, bei mir nur ein räudiger Hund, der sich in meinem Bein verbissen hatte.
Inzwischen war meine Hose nass vor Hundegeifer. Ich beschloss, etwas Endgültiges zu tun, packte das Tier erneut am Hals, würgte es und trug es ans Wasser, rannte mit ihm in die Dünung und warf es mit aller Kraft ins Meer hinaus.
Damit hatte der Hund nicht gerechnet. Er musste mit den Wellen kämpfen, vermutlich brannte das Salzwasser in seinen Augen, er brauchte lange, bis er zurückgeschwommen war. Am Ufer schüttelte er sich ausführlich und richtete zögernd den Blick auf mich. Ich saß barfuß auf meinem Schlafsack, hielt Portemonnaie und Pass in der Hand und heulte.
Auch damit hatte der Hund nicht gerechnet. Zwar kam er wieder näher, doch zaudernd, und sah mich unverwandt an. Er schien mir den groben Wurf ins Wasser kein bisschen krumm zu nehmen. Hatte er nicht gespürt, dass ich ihn ein für allemal loswerden wollte?
Ich wischte mir Rotz und Wasser von der Oberlippe, mein Handrücken stank nach nassem Fell. Der Hund setzte sich in vier, fünf Metern Entfernung hin, er fügte sich dem Stärkeren, erkannte ich, für ihn war ich kein barfüßiges Häufchen Elend.
„Wer hat dich geschickt?“, sagte ich vor mich hin.
Nach einer Weile gelang es mir, trotz Übelkeit und Verwirrung aufzustehen und zum ersten Mal aufs Meer hinauszublicken. Aufs Mittelmeer, auf die Ägäis, auf ihr angeblich magisches Blau, von dem jedoch jede Spur fehlte. Wie Luft und Strand und Häuser in der Ferne, so war auch das Meer durch und durch schimmernd delphingrau.

Auf dem Weg zurück in die Stadt bröckelte nach und nach der Sand von meiner nassen Hose, ich hielt mich an die Wasserlinie und steuerte erst nach einer langen Weile die Treppe an, die in die Innenstadt zu führen schien.
Beim Gehen wuchs in mir die Entschlossenheit des Wanderers ohne Schuhe, ich blickte stur nach vorn, doch meinte ich den Hund in meinem Rücken wahrzunehmen. Erst als ich die Treppe erreicht hatte, drehte ich mich um. Da stand er, etwa zehn Meter entfernt, vielleicht erwartete er etwas von mir, doch ich stieg die Treppe hinauf, verließ sein Revier und sah ihn von der obersten Stufe aus vor einer wachsenden Linie aus Pfotenspuren davonschnüren.

Lange sah ich ihm nach, noch als er sich bereits im grobkörnigen Morgengrau aufgelöst hatte, ich musste mir einen Ruck geben, um mich in Bewegung zu setzen – doch das war gar nicht ich, der mir den Ruck gab, sondern mein Banknachbar. Er hatte sich mir zugewandt und inspizierte aus nächster Nähe wie ein Notarzt mein Gesicht, und dann stand schon Charlotte neben mir und zog mich hoch. Die Fähre machte gerade in Üsküdar fest, nun drangen auch wieder Verkehrsgeräusche zu mir durch, mir war schwammig zumute wie nach einem ungewollten Mittagsschlaf, ich lächelte meine Tochter an, vermutlich übertrieben breit, und fragte, ob sie Delphine gesehen habe.
Sie verdrehte die Augen in der Art, die ihr das Alter vorschrieb, sagte „Hallo“ mit langem O und wedelte mit der Hand vor meinen Augen.
„Hast du oder hast du nicht?“
„Ich habe nicht.“
„Schade.“
„Aber ich habe Durst.“
Wir kauften Wasser am ersten Kiosk und schlugen den Weg zur großen Moschee ein. In ihrem Garten warfen alte Bäume Schatten, Familien lagerten auf dem Rasen, kein Mensch saß oder lag alleine, alle hatten Taschen, Tüten, Proviant dabei, die Kinder spielten, und von der Stelle aus, an der wir uns mit unserer kümmerlichen blauen Plastikflasche niederließen, sah man Männer sich an Messinghähnen Hände und Füße waschen, bevor sie die Moschee betraten.
Hier wäre der Ort gewesen, jeglichen groben Umgang zu vergessen, doch konnte ich mir bei meiner Tochter keineswegs sicher sein. Sie sah sich gründlich in dem Moscheegarten um. Ob ihr gefiel, was sie sah, hätte kein Fachmann der Welt an ihrem Gesicht ablesen können.
Da sie mit Schauen beschäftigt war, wagte ich es, sie zu mustern. Es blieb ihr nicht lange verborgen.
„Ist was?“
„Nun wirst du schon siebzehn“, sagte ich.
„Na und?“
„Ich möchte dir was erzählen.“