Isabella Feimer, Wien (A)

Geboren 1976 in Mödling, lebt in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Universität Wien. Besuch der Leondinger Akademie für Literatur.

Isabella Feimer wurde von Jurorin Corina Caduff für die TDDL 2012 vorgeschlagen.

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Isabella Feimer: Abgetrennt
vorgetragen bei den 36. Tagen der deutschsprachigen Literatur
© Isabella Feimer

Du sagst, rosig sind meine Wangen, wenn ich ein Gläschen Wein zu viel, ein Kompliment zu laut vernommen habe und deine Küsse über meine Haut schaben, schön, sagst du, ist meine Gestalt, wenn ich nachts durch den Perlenvorhang husche, sich das Nachthemd in den Fäden des Vorhangs verhängt, und die Perlen leise aneinander klicken, schön, wenn ich mich ankleide, wenn ich mich ausziehe, wenn ich nichts von beidem tue. Du fährst dir durchs Haar, wie du es immer tust, du sagst, du magst es, wie ich in meine Kleider schlüpfe, wie sich mein Kopf zur Seite neigt, wenn ich mir ein Hemd überziehe, die Hände und Arme zuerst durch den Ausschnitt schiebe, dabei die Finger spreize, unnatürlich, sagst du und lachst, wie ich den Leerraum oberhalb des Kopfes zu fassen suche, und wenn ich mich dann aufs Bett
setze, um in meine Strümpfe zu schlüpfen, ganz versunken, sagst du, der Blick, und der angespitzte Fuß, der sich in das Nylon schiebt, und dann, wie du springst, sagst du und lachst über mich, wenn einmal die Beine in den Strümpfen stecken, springst du auf und ab, ein zwei drei Mal. Ich ziehe mir die Strümpfe bis zu den Oberschenkeln, der Blick immer noch konzentriert auf das Nichts vor mir, und ich greife in die Innenseite der Strümpfe, ziehe das Nylon hoch, erst das linke Bein, dann das rechte, immer, sagst du, erst das linke, dann das rechte, und über die Strümpfe gleitet ein Rock, gleitet eine Hose, wenn es draußen kalt ist. Dabei mag ich Strümpfe nicht, es gibt nichts Unpraktischeres, sage ich, alles deinetwegen, sage ich mit einem Lächeln, denn du
magst sie, die schwarzen Strümpfe, die hautfarbenen weniger, und in die Schuhe, Stöckelschuhe, Stiefel, alles deinetwegen, schlüpfe ich zuletzt. Du sagst, du liebst mich.
Du kniest vor mir, und deine Hand greift nach meinem Schuh, hält ihn am Absatz fest, immer erst links, dann rechts, sage ich, und du streifst ihn mir vorsichtig über die Sohle, der Schuh fällt zu Boden. Ein dumpfer Ton, wenn das Leder auf das

Parkett trifft, und ich täusche vor, dass ich erschrecke, ein „nur so als ob“, für dich, dann lachst du, durchschaust mich, dann der Rock, bloß hochgeschoben, die Strümpfe am Bund gefasst und hinuntergezogen, verkehrt mir über die Fußspitzen, ich muss schon wieder lachen, auch das gefällt dir, ich muss mir das Hemd hinauf über den Brustkorb und über den Kopf ziehen, ich seufze leise, weil es am Kinn und an den Ohren sitzen bleibt, lass, sagst du und näherst dich der Beuge unterhalb des Kinns, es kitzelt, alles kitzelt, wenn du, und da ist dieses Gefühl, dass dein Körper von meinem nur durch ein paar Zentimeter getrennt ist, trotzdem unsere Körper eins, das lässt mich, ach, und du achtest darauf, dass wir einander nicht, noch nicht, dass du dich nicht auf mich legst, mich dein Körper nicht erdrückt, noch nicht, dabei
spüre ich dich so gerne. Du und ich, sagst du, zwei Insekten, die einander umgarnen und sich langsam in Liebe auffressen wollen.
Nur ich sehe, wie sich der erste Glanz der Morgensonne über das Betttuch legt, und ich strecke mich in das zarte Licht und will nach dir greifen. Nur ich höre, wie der Kaffee langsam ins Köcheln gerät und wie sich der Heizboiler einschaltet, es Klick macht und die Flamme blauorange flackert, und wenn ich mir das warme Wasser ins
Gesicht und über die Lippen – im Spiegel erkenne ich mich nicht.
Deine Tasse ist leer, aber jeden Morgen mir gegenüber am Küchentisch. Ich sitze auf meinem Platz beim Fenster, du würdest an mir vorbei und ins Grün hinaus sehen, in den Park, den wir zu unserem Garten machten, und zu der Bank, die unsere Initialen trägt.
Hast du Hühner schon einmal betrunken gesehen, fragst du, ich schüttle den Kopf, nein, sage ich erstaunt, du etwa? Als ich klein war, sagst du, und musst lächeln, haben wir sie betrunken gemacht, ich und – Sommer, und ich hatte einen Cousin, sagst du, und meine Großmutter hatte Hühner, etwa zehn oder zwölf, die wir, als wir
bei ihr zu Besuch waren, draußen auf dem Land, wo es Felder gab und einen Horizont, füttern mussten, immer, sagst du, haben wir Streiche gespielt, Gott und der Welt, den Eltern, den Großeltern, nur einander nicht, an diesen Wochenenden

waren wir wie Brüder, und an diesem einen Sonntag, nie werde ich den vergessen, den Hühnern. Du nimmst den Arm von meiner Schulter, rückst ein wenig ab von mir. Deine Hände nehmen sich den Raum, den sie brauchen, um der Geschichte die passenden Gesten zu verleihen, und meine legen sich gefaltet in den Schoß, mädchenhaft brav, um dir
zuzuhören. Etwas schimmert in deinem Blick, das ich vorher noch nicht sah. Einen selbstgebrannten Schnaps hat mein Cousin dem Großvater aus der Garage gestohlen und dann haben wir die ganze Flasche in den Eimer mit dem Hühnerfutterbrei geschüttet, das Hochprozentige mit dem Besenstiel eingerührt und, sagst du, den Brei im Hühnerstall verteilt, nicht, dass sie der Geruch abgeschreckt hätte, im Gegenteil, sie haben sich darauf gestürzt, aufeinander fast und gierig aufs
Futter, du lachst, ungewöhnlich hell, wir verließen den Stall und lehnten uns an den Zaun, der zwei Jahre ältere Cousin zündete sich eine Zigarette an, zog daran, ließ auch mich daran ziehen, dann warteten wir. Mussten nicht lange warten, bis der Schnaps bei den Hühnern seine Wirkung zeigte, so etwas hast du noch nicht gesehen, sagst du und stehst auf, so etwas Lustiges, wir haben uns krumm gelacht,
also diese Hühner, und ich sehe zu dir auf, während du dich vor mir aufbaust, um in die Rolle der betrunkenen Hühner zu schlüpfen, sind herum getorkelt, sagst du, die Augen ganz verdreht, wussten nicht, wie ihnen geschieht, und der alte Gockel hat mit dem Schnabel unentwegt in die Erde gepickt, als wolle er bis nach Australien, und dann machst du ein Huhn nach, wie es mit gespreizten Flügeln einen Tanz auf
wackeligen Beinen aufführt, ich lache, lache über dich, weil du nun von einem Bein aufs andere hüpfst und deinen Kopf immer wieder ruckartig in den Nacken fallen lässt, den Mund verziehst und die Augen verdrehst, bis deine Iris verschwindet, die schönen blauen Augen, sie sind klar, wenn sie durch mich hindurchsehen, auch wenn du mir zuzwinkerst, nachdem du dich noch einmal wie wild im Kreis
herumdrehst und mit den Armen auf und ab schwingst, als wären sie Flügel und sie tragen dich davon. Ich strecke dir die Hand entgegen, spreize die Finger, bewege sie flatternd auf und ab, dass du nach ihnen greifen kannst, will dich nah bei mir. Eine schöne

Geschichte, sage ich, und du nickst und greifst nach meiner Hand. Ich ziehe dich zurück zu mir, zurück auf unsere Parkbank. Unsere Rücken decken unsere Initialen ab. Eine halbe Stunde ist das so weiter gegangen, sagst du, die verrückten Hühner sind uns durchgedreht im Stall, und wir vor dem Stall – durchgedreht vor Lachen, aber
dann war Schluss mit ihrem Rausch, und sie sind nach der Reihe eins nach dem anderen eingeschlafen, ein Hühnchen nach dem anderen an Ort und Stelle umgekippt, der alte Gockel ganz zu Beginn. Wir, sagst du, haben auch vom Schnaps gekostet, wie der gebrannt hat, von der Zungenspitze in den Darm hinunter, aber uns hat er nur müde, nicht verrückt gemacht. Meine Hand haltend siehst du weg, drehst dich weit zur Seite und schüttelst den Kopf. Hat man euch erwischt?, frage ich. Du
streichst mir über die Wange, nie, sagst du, bei all unseren Streichen, aber dann überlegst du, doch, sagst du, einmal schon.
Und dann hat sie die Hühner vor meinen Augen geschlachtet, sagst du, abgetrennt den Kopf vom Rumpf, ich solle zusehen, hat die Großmutter gesagt, obwohl die Mutter dagegen war, vollkommen hysterisch war sie, wollte mir nicht zumuten, dass ich das sehe, zu jung ist er, hat sie gesagt, zu unerfahren noch, was, wenn er das nicht verkraftet, ach, ist der Vater ihr ins Wort gefallen, das verkraftet er, und mit
diesen Worten hat mich die Großmutter an den Schultern genommen, zu sich gedreht und mir einen Schmatz auf die Wange gedrückt, ist doch nur ein Huhn, hat sie gesagt, und du schon ein Großer, und dann ist sie mit mir in den Garten hinaus. Großmutter humpelte, ihr Gang wie eine Nussschale mit Papiersegel in einer Badewanne, und das Badewasser der Ozean. Hat mich im Hühnerstall neben sich
gestellt, als wolle sie mich in die Erde pflanzen, hat sich selbst auf den Hocker vor dem Baumstamm gesetzt, das alte Beil, das Rost angesetzt hatte, lag mit blutverkrusteter Klinge im Schoß ihrer Kleiderschürze, ein paar Körner hat sie ausgestreut, um die Hühner anzulocken. Schon sind sie herbeigeeilt, eins schneller als das andere, und Großmutter packte eines der Hühner an seinem Hals, legte es auf den Baumstamm, es schrie und quietschte, ihr fester Griff hat dem Hühnchen fast

den Hals zerquetscht, sagst du, und dann ging´s schnell, gezielt ein Schlag, und ab war der Kopf, fiel vom Baumstamm auf die Erde, die Augen des Tieres weiß und leer, der Körper nicht, als Großmutter ihren Griff lockerte, das Hühnchen losließ, rannte es davon, ziellos im Stall umher, nur kreischen, sagst du, konnte es nicht mehr, Blut spie aus dem Hals wie aus einer unserer Spritzpistolen, Blut überall, auf
mir, auf Großmutter, auf den anderen Hühnern, die sich aus Angst vor dem Gekreische in einer Ecke des Stalles zusammengedrängt hatten, was für ein Anblick, sagst du, wenn du ein totes Huhn um sein Leben laufen siehst. Ich mag deine Geschichten, sage ich, und ich mag es, wie du mir in den Mantel hilfst, wenn ich am wenigsten damit rechne, weil ich es eilig habe, zu spät dran bin, wie es so meine Art, wie du mir, wenn du mich zu dir drehst, einen Knopf nach dem anderen in das Knopfloch schiebst, gib acht auf dich, sagst, dir mit deinen Worten Zeit lässt, damit ich zur Ruhe komme und gelassen in den Tag. Es tut mir gut, dass
du mir einen schönen Tag, dass du mir dann einen Kuss, der mich meine Eile vergessen und mich in Gedanken hier bei dir bleiben lässt, auch wenn ich lange aus der Tür und auf der Strasse bin.
Ohne dich ist alles anders, und wenn ich morgens aus dem Kosmos unserer vierzig Quadratmeter hinaus in die Welt trete, ist alles so - der Körper leer, kraftlos, und abgetrennt der Kopf vom Rumpf vom Ganzen -, und es begegnet mir der Hauswart, guten Morgen, sagt er täglich, sieht hinter mich, sucht nach dir in meinen Blicken. Ich wende mich ab, müssen sie nicht, frage ich mit Bitterkeit, nicht das Stiegenhaus
fluten, muss nicht der Lappen den Schmutz von links zum Schmutz von rechts verteilen, muss nicht? Er hört mich nicht, fragt nicht nach. Dein Name auf dem Türschild durchgestrichen. Ich war das nicht.
Doch einmal, einmal in den Sommerferien, sagst du, bin ich mit dem Cousin aufs Dach geklettert, wie alle Jungs wollten auch wir wissen, wie das mit dem Fliegen ist. Wir liegen im Bett, ich habe dir den Rücken zugewandt, deine Stimme kitzelt in meinem Nacken. Ich habe meine Hände unter den Kopfpolster geschoben, liege

abgedeckt. Wir haben der Großmutter, sagst du, Leintücher aus dem
Schlafzimmerschrank gestohlen und sind mit der Leiter, mit der wir zuvor auf den Kirschbaum geklettert sind, diesmal aufs Dach. Da standen wir eine Weile, fest entschlossen. Hattest du Angst?, unterbreche ich deine Erzählung, und du überlegst. Ich kann mich nicht erinnern, sagst du, ich habe nicht nachgedacht, wir waren
Kinder, es war aufregend, da denkst du nicht, was alles passieren könnte, du etwa? Ich denke immer, was alles passieren kann.
Wir stellten uns an den Rand des Ziegeldachs, Zentimeter für Zentimeter haben wir uns bis an die äußerste Kante vorgeschoben, das Leintuch in den Händen, an beiden Enden fest zwischen die Finger gekrallt, einmal zusammengefaltet und aufgespannt
hinter unseren Rücken, so standen wir nebeneinander, hörten den Wind im Kirschbaum und zitterten, auf drei, sagte mein Cousin und sah mich an, ich nickte, er begann zu zählen. Eins. Zwei. Bei Drei sprangen wir. Ich schrie, während ich sprang, und es schien mir, als würde sich die Wiese während des Sprungs von mir weg bewegen anstatt sich zu nähern. Der Sprung dauerte, dauerte. Mein Cousin kam zuerst auf dem Boden auf, dann schrie auch er. Er hielt sich das Bein dicht an den
Körper, rollte von einer Seite zur anderen und wand sich, das Gesicht
schmerzverzerrt. Mir war nichts passiert, und Sekunden nach der eigenen Landung konnte ich mich nicht mehr erinnern, ob ich hart oder sanft gelandet war, ob ich mich abrollen ließ, ob ich mit den Füßen oder den Knien zuerst gelandet war. Alles weg. Verflogen. Eltern und Großeltern fassungslos. Tagelang gab es keine fürsorglichen Worte, weder an mich noch an meinen Cousin, der seinen Gips nach
dem ersten Schock, den er bald verwunden hatte, in der Nachbarschaft stolz den anderen Jungs und vor allem den Mädchen zeigte, und Tage nach dem Sprung erinnerte ich mich an das Geräusch eines brechenden Knochens, das ich Augenblicke vor der eigenen Landung gehört hatte. Dieses Geräusch, sagst du, höre ich heute noch. Es war mein letzter Sommer bei den Großeltern, und meinen Cousin sah ich danach nie wieder. Ich sehe das Dach mit seinen roten Ziegeln, sehe den Kirschbaum, der mit prallen Früchten lockt, sehe deine Großmutter auf einer Veranda sitzen, den Gockel auf dem

Schoß und ihm mit ihren leberfleckigen Fingern über den Kamm streicheln, und deinen Großvater in einem Holzschuppen unweit des Hauses Schnaps brennen, kann das Lachen deines Cousins hören, kann sehen, dass er den Mädchen aus der Nachbarschaft zugezwinkert hat, und du bist schüchtern daneben gestanden. Nie bin ich, sage ich, von Dächern gesprungen oder auf Bäume geklettert. Ich bin ein Grashalm unter deinen nackten Kinderfüßen. In diesem letzten Sommer,
bevor du erwachsen wurdest. Auch ich hatte einen letzten Sommer, da endet die Kindheit, da ist Schluss mit dem Spielen, dem unbedarften Lachen, den Bubenstreichen, den Mädchentränen. Mein letzter Sommer, sage ich, hat mich in deine Arme geführt. Dann drehst du dich weg, drehst mir den Rücken zu, tauchst ab in deine Gedankenwelt, weit weg. Nie werde ich sie vergessen, deine Kindheit, in der es Felder gab.
Es fehlt mir, dass du, wenn ich abends nach Hause komme, auf mich wartest, einfach da bist, im Wohnzimmer an der Fensterbank sitzt, vertieft bist in ein Buch oder eine Zeitung, und während ich aus meinem Mantel meiner Jacke meinen Schuhen in unser Zuhause schlüpfe, sehe ich dich über deine Lektüre lächeln oder den Kopf schütteln oder auf der Unterlippe kauen. Ich störe dich nicht, will dich nicht aus deiner inneren Ruhe reißen mit meinen Alltagssorgen, die ich mit dem
Einkauf in der Küche abstelle, in den Eiskasten räume oder ins Regal mit den Konservendosen. Ich mache mir Tee. Im heißen Dampf, der aus der Tasse steigt, verblasst mein Tag, drei bis fünf Minuten lang, und ich höre nicht, dass du hinter mir zum Stehen kommst, dass du an mir vorbei zur Kühlschranktür greifst, dann erst spüre ich deine Lippen im Nacken, wie du mir einen Kuss gibst, immer in den Nacken zuerst und einen auf die Schulter. Kühle Luft, die aus dem Kühlschrank
entweicht, streicht mir über die Beine, die Kühlschranktür fällt zu.
Ich träume, dass ich ein Eiskristall bin, im Gefrierfach, ich sitze fest, ich habe keine Angst, aber ich weiß, ich werde schmelzen, vergehen mit dem nächsten Öffnen der Kühlschranktür, sitze fest an der Fensterscheibe, wenn es draußen Winter ist, und ich warte, warte auf den Frühlingsatem, und mit dem Frühling bin ich eine

Heuschrecke, die von Stunde zu Stunde hüpft, aufgeschreckt durch den Tag. Ich zittere, wenn ich eine Stimme ähnlich der deinen höre, schwarz wird mir vor Augen, schwärzer noch im – dein kleines Herzerl, hast du gesagt, hast mit dem Finger darauf getippt, da drinnen, das ist mein Rettungsanker, mein Feuerwerk, mein Pfuhl... dein Pfuhl? Ich musste kichern, dann lachen, weil du mitgelacht hast, warum denn nicht?, hast du gefragt, hast mich angesehen, hast mich auf die Stirn
geküsst. Große blaue Augen. Na gut, warum denn nicht, wieder kein Grund, dir nicht zu glauben. Nie zu spät, sagst du, eine glückliche Kindheit zu haben, als wir durch die Strassen Havannas ziehen, langsam bei brütender Hitze durch die Altstadt an den Hafen,
einer Meeresbrise entgegen, entdeckende Blicke in alle Himmelsrichtungen, und wir bewegen uns frei, wie Kinder, aber ich hatte eine glückliche Kindheit, sage ich, jeder Mensch, sagst du, hat eine schreckliche Kindheit, irgendetwas ist immer, und wenn es nur der Goldfisch ist, der mit leeren Augen an der Wasseroberfläche treibt.
Ich lache, ich hatte einen Goldfisch, sage ich, siehst du, sagst du, jetzt weißt du, was ich meine. Wir proben Abschied, haben nur ein paar Stunden, bis du weiterfliegst, weiter südlich, ich tags darauf nach Hause. Ich habe Angst, dass ich dich nicht wiedersehe, nicht, dass dir etwas zustossen könnte, das nicht, ich weiß, du bist in meinen Augen
unverwundbar, ich habe Angst, dass du nicht zu mir zurückkommst, nach all den Jahren genug von mir hast, ein anderes Leben willst, sage ich, mit einer anderen Frau in einem anderen Land, du schüttelst den Kopf, sei nicht dumm, sagst du, ich komme zurück, ich muss nur eine Zeit lang, du weißt schon, und dann sind die Stunden um, wir stehen einander am Malecón gegenüber, hinter uns die Brandung,
die sich über die Mauer hebt. Soeben hat der Gewitterregen aufgehört, und über dem Asphalt steht sichtbar Dunst. Dass ich dich zum Flughafen begleite, willst du nicht, mach´s dir hier noch schön, sagst du, mach´s dir schön, versprochen? Du schulterst deinen Rucksack, winkst ein Taxi an den Strassenrand, küsst mich zum Abschied, du sagst, du liebst mich. Dann bist du verschwunden, und ich ertappe

mich dabei, dein Taxi in Gedanken wieder und wieder um dieselbe Ecke biegen zu sehen. Ich mag diese Stadt und ihre Menschen, die Musik und den Duft von gebratenen Bananen. Ich streune durch die engen Gassen und über die palmengesäumten Plätze, ich verstehe dich, ich verstehe dich nicht, denke ich wieder und wieder, ich hätte, vielleicht, bleiben sollen. Als ich auf den Heimflug wartete, schrieb ich dir auf eine Serviette: ich will, schrieb ich, bis sich der Füller leerte, dir all deine Erinnerungen, die du großzügig zu den meinen machtest, zurückgeben, packe sie mit in dieses Kuvert, das, wenn du es öffnest, ein wenig nach Rum vor allem nach Freiheit duften wird, auch die gemeinsamen Erinnerungen sollen dir gehören, alleiniges Sorgerecht, und unsere
Initialen, die wir einst in die Rückenlehne der Parkbank und uns gegenseitig in unsere Herzen ritzten, bitte, mach sie weg, das musst du tun, denn ich, ich komme auf unbestimmte Zeit nie mehr wieder, bitte, versteh, zu dir zurück, ich will die Erste sein, verstehst du, die, die geht.
Dein Schatten überall, ich kann ihn riechen, hängt am Kleiderständer, liegt im Regal, ich ziehe ihn mit meinen Strümpfen an, erst rechts, dann links, der Abdruck deiner Schattenhand markiert die Kühlschranktür. Ich lese in deinen abgelegten Zeitungen, in deinen abgegriffenen Büchern. Ich schmecke das Blut auf meiner Unterlippe, ich fahre mir durchs Haar, bis ich es mir ausreiße. Wenn du gehen willst, dann geh, habe ich dir nachgeschrien in das kalte dunkle Stiegenhaus. Glaubst du,
ich hörte dein Summen nicht. Den Perlenvorhang abgenommen. Ich bin ein Vögelchen, bin eine Amsel, ein Rabe, ein Kolibri, ein Wort von dir der Nektar für meinen Flügelschlag, bin eine Taube, die Grassamen aus der Erde pickt, sich aufscheuchen lässt und flüchtet auf ein
Häuserdach, gurrt und flattert, und wenn der Sommer kommt, das Rattengift in jeder schmalen Ritze sucht. Einmal fuhren meine Eltern mit mir ans Meer. Ich saß am Strand und beobachtete

die Fischer. Unter ihnen ein Mann, der einen Tintenfisch gefangen hatte. Er hielt ihn an den Tentakeln fest und wieder und wieder schlug er das Tier gegen den Felsen, schlug es tintenleer. Ich denke mich an diese Küste, der Sand ein Meer aus schwarzer Tinte, ich mit dir, bin in deinen Armen, die du von dir streckst, als wolltest du in beide Richtungen den Horizont fassen, der Horizont eine Leinwand, die du zu dir ziehst, sie zerknittert, ich mit ihr. Auch ich hatte eine Großmutter, auch ich habe gesehen, wie sie den Hühnern den Kopf abgehackt hat, und ich habe Ameisen mit einem Eimer Wasser ertränkt und sah meinen Großvater, wie er die Fische aus dem Weiher erschlug. Und ja, vielleicht hatte ich eine schreckliche Kindheit, hatte, habe ein Leben, deine Liebe mein Rattengift.
Vater nahm die Fische aus
die Innereien für die Katze
wir Kinder die Schwimmblase
legten sie ins Wasser
schwamm weiter
der Fisch im Kühlschrank
gezuckt
der Mutter vom Teller gesprungen
tot, kopflos
tintenleer
und in einer großen Pause die erste Zunge, die mir in den Rachen stieß
und der erste Körper, der an meinem rieb dreistöckige Torten mit rosa Zuckerglasur, jedes Jahr eine Kerze mehr
feingliedrige Puppen, schnitt ihnen die blonden Haare ab
kaute an ihren Plastikfingern
sengte ihre Kleider an
und der Großvater starb, und die Großmutter starb

offene Särge
ich schaute hinein
hörst du, ich erinnere mich, nie, hörst du, ist mein Goldfisch ertrunken
auch ich kann auf Bäume klettern und von Dächern springen, praller und höher, als
die deinen waren.
Und dann fülle ich deine Tasse doch mit Kaffee, tue so, als wärst du noch hier, nur mal kurz ins Badezimmer, ich strecke meine Hand nach dir, könnte dir durchs Haar, über deine Wangen. Die Tasse in der Hand zieht es mich aus meinen vierzig Quadratmetern in den Garten zu unserer Bank.
Die Initialen, deine, meine, abgekratzt.
Zitronengelbe Flügel zwischen deinen Fingerkuppen zerrieben zu Staub.
Mein kleiner Körper regenbogenhell.
Kopf vom Rumpf, das Herz vom Ganzen.