Daniel Wisser, A

Geboren 1971 in Klagenfurt, lebt in Wien. Seit 1990 verfasst er Prosa, Lyrik und radiophone
Werke und ist als Herausgeber und Verleger
zeitgenössischer Literatur tätig. Paul Jandl hat den Autor für den Klagenfurter Bachmann-Preis nominiert.

 

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Videoporträt

 

 

 

STANDBY

Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.

© 2011 Daniel Wisser

 

Die Stirn wird betastet. Es wird ein Wort gedacht: Augenkopfschmerz. So wird dieser Kopfschmerz von ihm bezeichnet. Sieben oder acht verschiedene Arten von Kopfschmerzen können unterschieden werden. Von der Frau wird behauptet, er sei dauernd krank, ständig erkältet. Er müsse die Stirnhöhlen untersuchen lassen. Aber Augenkopfschmerz und leichte Übelkeit wurden nicht von einem beginnenden grippalen Infekt ausgelöst.

Samstag früh. An Samstagen wird nicht gearbeitet. Und auch morgen wird er nicht ins Büro gehen können. Samstage werden von ihm nicht geliebt und auch Sonntage nicht. Er freut sich nicht auf das Wochenende.

Auf dem Nachttisch wird neben dem Bücherstoß, neben dem Wasserglas, aus dem die ganze Nacht kein einziger Schluck Wasser getrunken wurde, und neben den Schmerztabletten das Mobiltelefon gefunden. Das Display wird betrachtet: Keine entgangenen Anrufe. Das Mobiltelefon muss immer bereitliegen, da er sich am Wochenende im Standby-Dienst befindet. Reaktionszeit maximal 20 Minuten. Antwortzeit maximal 60 Minuten.

Vielleicht sollte gleich jetzt eine Schmerztablette genommen werden. Möglicherweise wird sich die Welt aber an diesem Samstag nach dem Aufstehen in ganz neuer Form zeigen: Er wird von seiner Frau verlassen worden sein; sein Vater wird verstorben sein, im Altersheim ruhig eingeschlafen und nicht wieder erwacht. Und Eva wird auf ihn zukommen − schon morgen, schon bald!

Es gibt nichts Schmerzhafteres, als darauf zu warten, dass ein Tag, eine Stunde, eine Woche vergeht. Er stellt sich vor, wie der Vater im Heim täglich auf jede Mahlzeit wartet, ohne dass er tatsächlich essen will. Durch die ständige Einnahme von Morphinpräparaten ist der Appetit gedämpft und der Stuhlgang eine Qual. Für den Vater sind Frühstück, Mittag- und Abendessen Kontrollpunkte, die ihm lediglich zeigen, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist, dass er nicht umsonst auf das Sterben wartet. Er denkt, dass ihm die Tage kürzer erscheinen je höher sein Lebensalter wird. Aber er unterbricht seine Gedanken, da es sinnlos ist, sich mit Spekulationen über das Anhalten oder Verlangsamen oder Beschleunigen der Zeit aufzuhalten. Und doch kann er einen Satz, von dem er nicht mehr weiß, wo er ihn gehört hat, nicht vergessen: Die Zeit kennt keine Wochenenden.

Damit der Samstag überstanden werden kann, werden Reparaturen in der Wohnung durchgeführt, Glühbirnen ausgetauscht, Updates auf dem Computer eingespielt und Müll und Sondermüll entsorgt. An Samstagen kümmert er sich um das Auto: Außenreinigung, Innenreinigung und so weiter. Bald schon, denkt er, wird ein Auto nichts bedeuten, nichts wert sein. Es wird keinen Treibstoff dafür geben. Die Fortbewegung wird sich verändern. Eine gigantische Regionalisierungswelle wird die Welt politisch neu einteilen, nur dass es keinen Überblick über die Gesamtsituation mehr geben wird.

Das alles wird sein Gutes haben und selbst einfache Menschen werden wieder nach gesunden Grundsätzen leben, von denen einer der wichtigste ist: der Wille zu sterben. Er hatte ihn schon als Kind. Er hatte Freude an der Vorstellung des eigenen Todes wie auch des Todes anderer. Eine Katastrophe, eine Flutwelle, etwas Außergewöhnliches wäre auch heute besser, als jeden Samstag den Vater im Heim zu besuchen und das sinnlose Vor-Sich-Hin-Leben aus der Nähe betrachten zu müssen.

Dieser Samstag wird überlebt werden müssen. Es sollte aufgestanden werden. Von zehn bis null herunterzählen und bei null aufstehen. Bei null wird der Oberkörper aufgerichtet und die Beine werden aus dem Bett gehoben. Zehn. Die Befehle für die Bewegung der Beine wurden nicht ausgeführt. Neun. Sollte aufgestanden werden, so muss zuerst die Bettdecke vom Körper gezogen werden. Acht. Für Donnerstagabend ist mit Eva ein gemeinsamer Spaziergang vereinbart worden. Sicherlich wird das Treffen aber von Eva in letzter Minute abgesagt werden. Eva hat früher mit ihm in der Abteilung gearbeitet. Vor vier Jahren wurde Eva von ihm eingeschult. Sechs. Während der Einschulung war von beiden viel gelacht worden, gelacht über längst vergessen Geglaubtes wie das Vierteltelefon, die Winter Games auf dem C64 oder über Malen nach Zahlen. Zählen nach Zahlen.

Die letzte Zahl wurde beim Denken an Eva vergessen. Das Zählen von zehn bis null muss wiederholt werden. Ein Anwachsen, eine Intensivierung des Augenkopfschmerzes wird festgestellt. Das Bett kann im Moment keinesfalls verlassen werden. Kein Körperteil der Frau kann neben ihm ausgemacht werden. Sie schläft wahrscheinlich vor laufendem Fernsehapparat auf der Couch im Wohnzimmer.

Es wird nicht wieder zu zählen begonnen und es werden keine Körperteile bewegt, aber es werden Erinnerungen geweckt − Erinnerungen an den Tag, an dem ihm Eva vorgestellt wurde. Das geschah vor fast vier Jahren − am 6. September 2004. Vor ihm wurde die Geschäftsführerin sichtbar, neben ihr die neue Mitarbeiterin. Eine blasse, leicht zitternde Hand wurde ihm entgegengehalten. Widerwillig wurde diese Hand geschüttelt und wieder losgelassen. Ungern gibt er jemand die Hand.

Jeden Tag saß Eva neben ihm an seinem Schreibtisch und ließ sich die Grundfunktionen der Software und ihre Anwendungsgebiete erklären. Eva trug meist helle oder weiße Kleider. Ihre Haut hingegen kann nicht als hell oder weiß, sondern muss als durchsichtig bezeichnet werden. Er konnte Evas Blutgefäße deutlich erkennen. Manchmal konnte er durch die Haut bis zu ihrem Herzen sehen.

Und dann wurde hin und wieder gemeinsam essen gegangen. Am liebsten wurden Evas Bewegungen studiert, wenn sie das Restaurant betrat oder verließ oder beide auf dem Weg zu seinem Auto waren. Evas Hände berührten alle Gegenstände zögerlich. Wenn sie auf eine Stelle auf dem Bildschirm zeigte, wurde sie von äußerster Vorsicht geleitet, die Oberfläche nicht mit der Fingerspitze zu betasten. Diese Achtsamkeit Evas wurde mit großer Freude registriert, denn Menschen, die seinen Bildschirm berührten, waren ihm verhasst.

 

Die Gespräche beim Mittagessen wurden mit der Zeit weniger vorsichtig geführt. Bald wurde dafür mehr als eine Stunde in Anspruch genommen. Eva trug das Haar nun immer öfter streng nach hinten zusammengebunden. Eines Tages wurde ihr dafür ein Kompliment gemacht. Als sie sich dafür bedankte, bebte Evas Hals stärker als üblich. Ihr Brustbein wurde vom Pochen der Halsschlagader regelrecht erschüttert. In der Firma wurde über die beiden längst geredet.

Als Erstes muss die Toilette aufgesucht werden, bevor die Frau wach wird. Die Toilette wird von ihm immer verriegelt, denn er will nicht überrascht werden. Am liebsten wäre es ihm, wenn die Frau nicht in der Wohnung anwesend ist, während er das WC benutzt. Vor zwei Jahren wurde das erste Mal ein unangenehmer Geruch am eigenen Körper festgestellt.

Er wird Eva nicht vor dem Untergang retten können. Sie ist zu unberechenbar. Nach der Katastrophe wird man Menschen brauchen, die selbstständig handeln können. Die Frauen werden Kinder gebären und diese Kinder und die Männer an ihren Brüsten säugen. Sie werden arbeiten, kochen und das Revier verteidigen.

Der Atem wird angehalten. Der Fernsehapparat im Wohnzimmer kann gehört werden. Das Surren des Kühlschranks in der Küche. Der Deckel der Mülltonne im Innenhof wird geräuschvoll geschlossen. All das wird von der Frau nicht gehört. Sein Problem ist, dass er alles hört, dass er alles hören kann: Während die Frau die Geräusche der Umwelt nicht wahrnimmt, machen ihm Lärm und hohe Frequenzen zu schaffen. Die hohen pulsierenden Ultraschalltöne von Rattenabwehranlagen, das Schaben einer Gabel oder eines Messers auf einem Teller, das Pfeifen elektrischer Geräte, die Geräusche der Gasetagen-Heizung und des Kühlschranks. Auch der Fernsehapparat gibt andauernd einen hohen Ton von sich, der von der Frau anscheinend nicht wahrgenommen wird; denn sonst wäre sie schon längst wahnsinnig geworden.

 

Eine Schmerztablette wird aus der Packung gedrückt. Das Wasserglas, aus dem die ganze Nacht über kein einziger Schluck getrunken wurde, wird zur Hand genommen.

Schon vor vier Jahren hatte er in Erwägung gezogen, Eva einen Heiratsantrag zu machen. Freilich wäre es notwendig geworden, vorher seine Frau aus dem Weg zu räumen. Sie wurde zwar nicht als sonderlich störend empfunden, aber Eva hätte sicher auf einer sauberen Lösung bestanden.

Schon im Alter von zwölf Jahren ist von ihm ein Tod herbeigewünscht worden − der Tod der Frau eines Onkels. Als der Vater am darauffolgenden Tag der Familie die Nachricht überbrachte, musste Trauer vorgetäuscht werden. Aber die Frau betreffend konnte nie ein entsprechender innerer Entschluss gefasst werden, das Notwendige auch auszuführen, und so wurde die Heirat mit Eva immer wieder hinausgeschoben. Noch dazu wäre es nötig oder zumindest besser gewesen, dass Eva oder er zuvor bei der Firma gekündigt hätten. Von der Geschäftsführerin wurde ihm damals − einige Wochen nachdem Eva in die Firma eingetreten war − im Zuge einer Umstrukturierung der Posten des Teamleiters des Callcenters angeboten. Allerdings wurde er bei einem diesbezüglichen Gespräch auch auf die regelmäßigen gemeinsamen Mittagessen mit Eva angesprochen. Seine Antwort, dass er verheiratet sei und es wohl Privatangelegenheit sei, mit wem er Mittagessen gehe, wurde mit einem Lächeln quittiert. Es sei in der Tat Privatsache, mit wem er Mittagessen gehe, wurde von der Geschäftsführerin mit einem Grinsen geantwortet. Und da Privatangelegenheiten sich auch ändern könnten, müsse von ihr wohl nicht darauf hingewiesen werden, dass intime oder partnerschaftliche Beziehungen unter Mitarbeitern der Firma ungern geduldet, innerhalb derselben Abteilung aber nicht toleriert werden würden.

Beim Mittagessen wurde Eva von diesem Gespräch erzählt. Aus Vorsicht beschlossen sie, einander keine E-Mails mehr an die Firmenadresse zu schreiben.

Er wurde verlegen. Langsam wurde der Hackbraten auf dem Teller mit der Gabel untersucht, an den Rand geschoben und umgedreht. Dass der Hackbraten auf der Unterseite ganz hell und innen sogar noch teilweise roh war, ärgerte ihn. Eva gratulierte ihm nicht zu seinem neuen Posten als Teamleiter. Das Ketchup war lieblos auf einem bereits verwelkten Salatblatt serviert worden. Der Bratensaft hatte sich über den gesamten Teller verteilt und die Pommes frites aufgeweicht. Der Teller mit dem Hackbraten wurde seitlich auf einen Stapel von fünf Bierdeckeln gestellt, sodass der Bratensaft sich auf einer Seite sammelte und die Pommes auf der anderen Seite wieder im Trockenen lagen. Mit Eva wurde vereinbart, nächste Woche im Kino Hana-Bi anzuschauen. Dann prosteten sie einander zu.

Er brauchte noch Zeit. Zeit, um die Ehe zu beenden. Zeit, um seine Frau loszuwerden. Vielleicht sollte er sie einmal schlagen oder ganz offensichtlich betrügen, sodass er von ihr verlassen werden würde? Evas Gesicht wurde aus den Augenwinkeln betrachtet. Sie wirkte, als würde sie sich ganz auf ihr Essen konzentrieren; aber er spürte, wie ihre Beine sich unter dem Tisch bewegten, und er sah, wie ihr Herz pochte. Nun konnte er ihr nicht mehr in die Augen blicken. Er wollte jetzt ins Kino gehen. Augenblicklich. Oder zumindest gleich nach der Arbeit. Er überlegte sogar, das vorzuschlagen. Dann aber aß er in Ruhe den bereits kalt gewordenen Hackbraten. Schnell wurde bezahlt und aufgestanden. Galant wurde Eva auf dem Parkplatz die Autotür aufgehalten.

Am Abend wurde die Waschmaschine vollgestopft und der längste Waschgang gestartet: Baumwolle bügelfreundlich mit Vorwäsche (Schleudertouren: 800 U/min). Laufzeit: zweihundertundvierzig Minuten. Wenn der Waschgang bügelfreundlich verwendet wurde, durfte die Fleckenstopp-Taste nicht gedrückt werden. Als die Frau nach Hause kam, ins Badezimmer lief und sich dort auszog, war das von ihm gestartete Waschprogramm noch nicht beendet. Genau so war es beabsichtigt worden. Sie konnte die ausgezogenen Kleider nicht waschen und stopfte sie daher in den Wäschekorb. Als die Frau aus der Dusche stieg, betrat er das Badezimmer. Sie erschrak. Vor ihr wurden ihre in den Wäschekorb gestopften Kleider von ihm wieder herausgezogen und mit einem geräuschvollen Laut des Einatmens und geschlossenen Augen daran gerochen.

Nach dem Aufstehen betritt er das Wohnzimmer. Wie erwartet wird die Frau schlafend auf der Couch vorgefunden. Der Fernsehapparat ist in der Nacht nicht ausgeschaltet worden. Über den Bildschirm flimmern die Tageshöchsttemperaturen für Ferienorte, Windrichtungen und Windstärken.

Auf der Toilette stellt er fest, dass das Ende des Toilettenpapiers in die Kartonrolle gestopft worden ist. Im Badezimmer ist der Brausekopf nicht in die dafür vorgesehene Halterung gesteckt, sondern in die Badewanne gelegt worden. Immer wenn das Waschbecken verschmutzt vorgefunden wird, wird die braune Kruste mit der Zahnbürste der Frau weggebürstet und die Bürste in den Becher zurückgesteckt. In der Küche ist die Milchpackung über Nacht auf dem Esstisch stehen gelassen worden, anstatt nach Gebrauch zurück in den Kühlschrank gestellt zu werden. Auf dem Tisch liegt eine Streichholzschachtel, die bereits benutzte und noch unbenutzte Streichhölzer enthält. Der Geschirrspüler wird geöffnet. Zwar ist das Geschirr darin sauber, aber der Besteckkorb ist nicht verwendet worden, um die vom Verzehr einer Cremetorte stark verschmutzte Dessertgabel zu reinigen. Wohin sich der Blick auch richtet, wird nur Chaos und Unordnung entdeckt.

Die im Wohnzimmer schlafende Frau wird geweckt. Das wird durch starkes Klopfen mit der flachen Hand auf die Lehne der Couch erledigt, ohne dass die Frau dabei berührt werden müsste. Er fragt sie, ob sie ihn ins Altersheim begleiten werde. Jeden Samstag besucht er dort seinen Vater. Er fragt noch einmal. Keine Antwort.

An dem Tag, für den vereinbart worden ist, gemeinsam mit Eva im Kino Hana-Bi anzuschauen, wurde schon, anstatt wie an jedem anderen Tag um halb acht Uhr, um vier Uhr von der Arbeit nach Hause zurückgekehrt. Er fragte sich, wie wohl im Kino nebeneinander gesessen werden würde? Wer würde rechts, wer links sitzen? Wenig würde sich auf den Film konzentriert werden. Eher auf den Atem des anderen. Auf die Position der Arme auf der Lehne zwischen den Sitzen. Noch einmal betrat er das Badezimmer, um mehr Deodorant aufzutragen und dann die Wohnung zu verlassen. Noch einmal ging er ins Vorzimmer, um sich im Spiegel zu betrachten und daraufhin die Wohnung zu verlassen. Ein drittes Mal wurde die Wohnung betreten, um die Krawatte doch wieder abzunehmen. Dann wurde abgesperrt. In diesem Moment läutete sein Mobiltelefon. Es war kein Kunde. Es war nicht seine Frau. Es war Eva.

Ein langer Monolog folgte, während er, den Schlüssel noch in der Hand, vor der Eingangstür zur Wohnung stand. Eva sagte, sie hätte am Nachmittag ihren Neffen vom Kindergarten abgeholt und danach mit ihm in ihrer Wohnung gespielt. Dabei wäre der Neffe versehentlich auf ihre am Boden liegende Brille getreten und ein Glas wäre zu Bruch gegangen. Ohne Brille hätte es aber für sie wenig Sinn, ausgerechnet ins Kino zu gehen. Ein viertes Mal ging er in die Wohnung zurück. Das Mobiltelefon immer noch ans Ohr gepresst, ärgerte er sich darüber, dass er das Büro umsonst um vier Uhr verlassen hatte, während am Telefon weiterhin das Brillenproblem erörtert wurde. Von Eva wurde vorgeschlagen, einander in einer Bar zu treffen. Name und Adresse der Bar wurden genannt. Dann wurde ein Fehler gemacht: Es wurde zugesagt.

Nach dem Auflegen wurde klar, dass ihm zu wenig über Eva bekannt war. Plötzlich gab es einen Neffen. Und vielleicht würden demnächst Nichten, Ehemänner, Liebhaber auftauchen. Seltsam auch, wie die umständliche Geschichte eingeleitet worden war: Sie habe ihren Neffen vom Kindergarten abgeholt. Als ob das von Belang gewesen wäre. Es wäre allerdings dann von Belang, wenn die ganze Story erlogen war und plausibel erscheinen sollte. In solchen Fällen werden stets Details erfunden.

Eine halbe Stunde zu früh erreichte er das Lokal. Oberhalb der Bar hingen vier Uhren, über denen Wien, New York, Sydney und Johannesburg stand. Die Barhocker waren am Boden angeschraubt, allerdings viel zu weit von der Theke entfernt. Er musste sich nach vorne beugen, um die Schale mit Erdnüssen erreichen zu können. Sklaventreiber-Jazz drang aus den Lautsprechern. Den gesamten Raum erfüllte der Geruch eines WC-Reinigers. Es wurde ein Martini bestellt.

Eva kam zwanzig Minuten zu spät. Natürlich wurde zunächst die Frage nach der Brille gestellt. Eva hatte sich in keiner Weise dafür entschuldigt, dass das Kino nun ausfiel, dass man diesen Film, den man, so Eva beim Mittagessen, einfach gesehen haben musste, nun doch nicht sehen würde. Noch mehr enttäuschte ihn, dass sie die kaputte Brille nicht dabei hatte. Auf Kontaktlinsen angesprochen, gab Eva gereizt zur Antwort, dass sie zwar welche besitze, diese allerdings nicht vertrage. Ein Monolog wurde von Eva angestimmt, der von der Hektik dieses Tages handelte. Sie wurde aber auch gleich wieder von ihm unterbrochen und nach einer Ersatzbrille gefragt. Offenbar wollte Eva das eigentliche Problem nicht besprechen.  Es entstand ein quälendes, minutenlanges Schweigen.

Später kam das Gespräch wieder etwas in Gang. Nach dem Martini und einem Gin Tonic wurde von ihm ein zweiter Gin Tonic bestellt. Eva lobte das Lokal mit übertriebenen Worten. Als Antwort auf dieses Lob wurde von ihm auf der Uhr über der Bar abgelesen, wie spät es gerade in Sydney sein musste. Der zweite Gin Tonic wurde serviert. Die makellos gebügelte Bluse der Servierkraft, die, wenn sie sich bückte, den Blick auf zwei jugendliche Brüste freigab, zog ihn in ihren Bann. Das Haar war streng zu einem Zopf geflochten. An ihren leicht abstehenden Ohren hingen zwei riesige Kreolen. Sie sah ihm so lange in die Augen, dass er dem Blick nicht standhalten konnte. Das Duell wurde von ihm verloren. Die Toilette wurde aufgesucht und im Mobiltelefon eine Erinnerung mit Alarmsignal programmiert. In zehn Minuten würde der Alarm losgehen.

Von der Toilette wurde zum Tisch zurückgekehrt und das Gespräch fortgesetzt. Er dachte, dass er den Alarm besser auf fünf als auf zehn Minuten hätte einstellen sollen. Endlich ertönte das Mobiltelefon. Es wurde hinausgegangen und ein Telefonat vorgetäuscht, die Rechnung mit der Kreditkarte bezahlt, sich knapp entschuldigt. Nur einige Millimeter war seine Hand an diesem Abend von Evas Unterarm entfernt gewesen. Er hätte zugreifen und seine Liebe bekennen sollen. Dennoch war die Berührung Evas an diesem Abend unterlassen worden.

Zu Hause wurde alleine auf der Couch gesessen und der Fernsehapparat angestarrt, ohne einzuschalten. Der Wodka wurde pur getrunken, da er für das Zubereiten eines Martini bereits zu bequem war. Vor der Tür wurde eine Minute lang in einer Handtasche nach einem Schlüssel gekramt. Die Tür wurde aufgesperrt. Von der Frau wurde die Handtasche im Vorzimmer fallen gelassen und sofort das Badezimmer betreten. Dort wurde lange geduscht, die Waschmaschine eingeschaltet und dann im Bademantel das Wohnzimmer betreten. Meist wird von der Frau zu viel Waschmittel eingefüllt, das dann vorzeitig durch den Saugheber in den Einspülkasten gelangt. Dadurch wird eine starke Schaumbildung in der Wäschetrommel ausgelöst. Immer wieder wird die Frau von ihm aufgefordert, die Markierung des Waschmittelbehälters zu beachten. Er wurde gefragt, ob er aus gewesen sei. Er antwortete, dass er nicht im Kino gewesen sei. Warum eine Krawatte im Vorzimmer liegen würde. Schweigen. Der Fernsehapparat wurde eingeschaltet.

Der Weg zum Heim wird langsam zurückgelegt. Das Heim ist nur zehn Minuten von der Wohnung entfernt. Schon beim Betreten wird der penetrante Altersheimgeruch festgestellt. Von der Rezeptionistin wird ihm zugewunken und mit dem Zeigefinger nach oben gedeutet. Das bedeutet, dass der Vater auf seinem Zimmer ist und nicht in der Cafeteria. Zweimal wird an die weit geöffnete Zimmertür geklopft.

Der gestrige Tag sei genauso verlaufen wie der heutige, nur mit weniger Schmerzen. Die mitgebrachte Zeitung wird aufgeschlagen. Nie wurde der Vater mit Vater oder Papa angesprochen, sondern immer nur mit Vornamen. Dafür wurde er selbst als Kind von Mitschülern und Freunden und später von der eigenen Frau ausgelacht. Die Schmerzen würden am dritten Tag so stark werden, dass ihm der Doktor erlaubt habe, das Pflaster alle zwei Tage zu wechseln. Am nächsten Tag würde er sehr müde werden, andauernd einschlafen, obwohl er laut Arzt eigentlich unruhig werden sollte. Eine höhere Dosis würde es nicht mehr geben. Er könne nur noch zusätzlich die Tropfen einnehmen.

Gestern habe er die Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking verfolgt. Ein Spektakel sei das gewesen − zwischen Heller und Hitler. Die Zeitung wird wieder weggelegt. Sie würde morgen gelesen werden. Er habe für Politik nichts mehr übrig, schon gar nicht für die lähmende Langeweile der sogenannten Innenpolitik. Die Demokratie sei die Diktatur der Geisteskranken und Schwachsinnigen. Wenn man die Geschicke eines Staats vom Erfolg bei der Mehrheit abhängig mache, herrschten eben solche Zustände. Dass darüber gelesen werden solle − womöglich noch mit Interesse − sei eine Zumutung.

Der Vater zittert stark, sodass die Suppe verschüttet und jedes Mal ein leerer Löffel in den Mund genommen wird. Er wird gefragt, warum die Frau diese Woche wieder nicht mitgekommen sei. Ob es Streit gebe? Die Antwort wird ebenfalls vom Vater ausgesprochen: Natürlich würde es Streit geben, das bemerke er doch. Er sei nicht zweimal verheiratet gewesen, um so etwas nicht sofort zu bemerken.

Es wird geschwiegen. Es sei nun, sagt der Vater, kurz nach fünf Uhr und er habe bereits zu Abend gegessen. Lange Stunden lägen noch vor ihm, bevor er damit beginnen könne, so zu tun, als würde er schlafen. Der Fernsehapparat läuft die ganze Zeit. Das Altersheim sei in Wahrheit ein Konzentrationslager für Krüppel und Nicht-Mehr-Lebensfähige.

Er möchte am liebsten verbrannt werden und seine Asche verstreuen lassen. Der Gedanke an eine Bestattung sei fürchterlich. Er wolle nirgends bestattet werden, sondern in Ruhe tot sein. Der regelmäßige Besuch hier wird plötzlich als großes Unrecht gegen den Vater empfunden. Als Unrecht und zugleich als Selbstbetrug. Er solle die Frau grüßen, nicht herzlich grüßen, sondern nur grüßen. Auf dem Heimweg wird durch den Park gegangen.

Im Park wird auf einer Bank gesessen, ein Baum betrachtet und lange eingeatmet. Der Sekundenzeiger der Armbanduhr wird verfolgt. Zehn Sekunden lang wird eingeatmet und zwanzig Sekunden ausgeatmet. Zwei Atemzüge pro Minute. Vielleicht käme er auch mit einem Atemzug aus? Beim Atmen verschwindet er langsam, wird von niemand mehr bemerkt. Ein Eichhörnchen mit den Resten einer Nuss im Maul hüpft von einem Baum, läuft zu der Bank, auf der er sitzt, und bleibt einige Zentimeter neben ihm stehen. Was für ein degeneriertes Tier, das der Stille traut! Er mag Tiere nicht; er will sie weder essen noch sehen. Beim Haupteingang des Parks wird eine Frau von einem Hund angefallen.

Zu Hause wird von der Frau gerade mit dem Vater telefoniert. Dem Vater wird mitgeteilt, dass es keinen Streit gebe und keine Ehekrise.

 

 

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