Anna Maria Praßler, D

Geboren 1983 in Lauingen, lebt in Berlin. Studium der Filmwissenschaft,Theaterwissenschaft
sowie Psychologie in Berlin, Los Angeles
und Bologna, anschließend Drehbuch an der
Filmakademie Baden-Württemberg.

 

Vorgeschlagen wurden Anna Maria Praßler von Juror Burkhard Spinnen.

 

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Videoporträt

 

Das Andere

von Anna Maria Praßler

Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.

 

© 2011 Anna Maria Praßler

 

In dem Jahr, als ich meine Dissertation abschloss, fiel es mir schwer, Tod anders als symbolisch zu begreifen. Die Römer warfen die Leichen derer, die sie zum Kampf im Kolosseum verurteilt hatten, in den Tiber; ihre Haltung mag pragmatisch gewesen sein, ich sah ein Sinnbild darin: Ein Mensch muss Rom durch ein Gewässer verlassen, das den Schmutz der schwül dünstenden Stadt aufsaugt und sich mit der Lauge der Cloaca Maxima vermengt. Um dies und kaum etwas sonst kreisten meine Gedanken in diesem Sommer, ich erlaubte es ihnen nicht abzuschweifen, weniger aus akademischem Eifer, vielmehr weil ich Angst vor dem hatte, wovor sie geflohen waren, nicht leichtfüßig und flirrend, wie man es Gedanken gern unterstellt, nein. Es war ein Akt der Anstrengung gewesen. Vor lauter Erschöpfung realisierte ich nicht, dass ich Seiten um Seiten allein damit füllte, zu erklären, wie der Leib des Schwerverbrechers, des Christen, des Sündenbocks öffentlich vernichtet, dann entsorgt, wie zum Zweck einer Selbstbestätigung und Selbsterhaltung das Andere beseitigt wird.

An Björn dachte ich nicht.

 

Stattdessen Brot und Spiele. Mit der These vom schönen Schein zur Ablenkung der Massen hakte sich der neue Stipendiat in die Kolloquiumsdiskussion ein, gerade als ich mich leise zum Gehen erhob. Meine Professorin nickte mir zu. Ein Todesfall, so hatte ich erklärt, im Süddeutschen. Der Ablenkungsthese gewann ich nichts ab, gerne wäre ich dageblieben, noch eine Stunde oder anderthalb, in der abgestandenen Luft des Seminarraums, doch um 16 Uhr 10 musste ich in Tempelhof eingecheckt haben.

Ein Todesfall im Süddeutschen traf es nur unscharf: Meine Wortwahl ließ an Menschen denken, die mich erwarteten, an gemeinsame Trauer und Rituale. Tatsächlich aber hatte die Beisetzung bereits stattgefunden, ohne dass ich davon in Kenntnis gesetzt worden war. Björn wollte es so, schrieb seine Mutter und ich wusste, dass sie nicht log.

 

Als ich aus dem Institut trat, fuhr der 183er gerade über die Kreuzung, an der Haltestelle vorbei. Das Stückchen Fußweg bis zum Rathaus Steglitz kam mir gerade recht, denn schon immer sortiere ich im Gehen meine Gedanken. Doch das Stolpern der Rollen brachte mich rasch aus dem Konzept. Es war die Zeit vor den Billigfliegern, als das Klappern der Rollkoffer noch nicht zum Geräusch der Stadt gehörte. Während ich meinen Koffer über die Bordsteinkanten zog, erwog ich die (nicht sehr originelle) Idee, mit Sueton einzuleiten. „An seinem letzten Lebenstage“, so begann das Zitat, das ich schließlich meiner Dissertation voranstellte, „rief Kaiser Augustus seine Freunde und fragte sie, ob er denn wohl die Komödie des Lebens anständig gespielt habe, und endete mit der Schlussformel: ‚Wenn aber nun sehr gut gespielt ist, dann klatschet Beifall und gebet alle uns mit Freude das Geleit.’ Daraufhin starb er.“ Zitiert nach Zanker, ich hatte Augustus und die Macht der Bilder in die Seitentasche meines Rollkoffers gesteckt.

 

Es sah Björn ähnlich, dass er mich nicht selbst entscheiden ließ, ob ich zu seiner Beerdigung kam. In seinem Testament stand, ich solle erst drei Wochen nach seinem Tod darüber informiert werden. Sonst stand da nichts von mir.

 

Sowie ich den Flughafen betrat, hatte ich für einen Moment das Gefühl, in einer fahlen Postkarte gelandet zu sein. Ich zog meinen Koffer auf den glatten PVC-Boden und durchschritt ein Mal die Halle, bevor ich den Schalter fand: 16 Uhr 40 nach Augsburg. Hauptsächlich Geschäftsreisende umgaben mich, bestimmt waren auch Politiker darunter, es war das Jahr, als Berlin Regierungssitz wurde. Der geschäftige Stillstand der wartenden Männer durchdrang den hohen Raum und schwappte zu mir, machte mich kurz zu einer der ihren, ein konkretes Ziel vor Augen, einen Auftrag, ein Geschäft, den Feierabend zuhause.

 

Ich lernte Björn in meinem siebten Semester kennen. Es war ein warmer Tag Anfang Juli. Zu der Zeit hatte ich mehrere verschiedenartige Beschwerden, wegen derer ich in Behandlung war. Sollte ich im Seminar ein Referat halten, feilte ich tage- und nächtelang fieberhaft an einem Text, dessen fachliche Tadellosigkeit mir weniger Mühe machte als die umgangssprachlich-spontanen Einsprengsel, die ich mit auswendiglernte, um sie an der richtigen, da natürlichen Stelle einzufügen; ein gewisser Grad an Zerstreutheit konnte auch nicht schaden, da er doch die wahre Denkerin verrät, mal die Wiederholung eines Halbsatzes, eine Pause im richtigen Moment, und nichts davon war echt. Mit Björn wurde das besser. Ob es nun an ihm lag oder nicht.

Vor Björn kam es vor, dass ich es den ganzen Tag lang nicht schaffte, den Rollladen hochzuziehen. Abends, nachts ging ich manchmal aus, Charlottenburg oder Mitte, schminkte mich wie Anita Berber in dem Gemälde von Dix und sah recht geheimnisvoll aus.

Obwohl es seit Jahren möglich war, fuhr ich zum ersten Mal ins Brandenburgische. Wie es mir gelungen war, mich an einem Sonntagvormittag nach Buckow aufzumachen, darauf fand ich keine Antwort, als ich so andächtig wie möglich ins Brecht-Weigel-Haus trat und durch die große Glasfront auf See und Garten blickte. Brecht, den ich als Theatertheoretiker schätzte, wohingegen mir seine Stücke immer fremd geblieben waren, war mir noch nie so vergangen vorgekommen.

 

Über Björns Ehe wusste ich nicht mehr als dass sie unglücklich war. Dass er seine Frau für mich verließ, hielt er für ein Opfer, das ich nicht genügend würdigte. Jetzt wartete ich aufs Flugzeug in Richtung seiner Heimat, die anzusteuern mir nur einem einzigen Zweck diente: Björns Grab nicht zu besuchen. Das konnte ich in Berlin auch, aber drunten, wie er immer sagte, konnte ich es besser.

Ich lasse mir nämlich Entscheidungen nicht gerne abnehmen.

Stark genug war ich, keine Frage. Einem Toten noch den letzten Triumph zu nehmen, mochte pietätlos sein, unsinnig oder kleinlich. Aber ich hatte es so satt, wenn Björn an meiner Statt entschied. Nur daran dachte ich.

 

„Beruflich“, sagte ich, als der gebeugte Mann vor mir in der Schlange, der von seinem Besuch bei Sohn und Enkeln in Kreuzberg erzählte, nach dem Grund meiner Reise fragte. Ich sprach vom Jesuitentheater und von Jakob Bidermann, dem Barockdramatiker, der in Dillingen Theologie und Philosophie gelehrt hatte. Ich sprach viel und umständlich, und sowie ich es aussprach, wurde es logisch und wahr. Fast hätte ich selbst daran geglaubt, dass ich im Wintersemester ein Proseminar zum Festcharakter des Jesuitentheaters anbieten würde. Ich fühlte mich ertappt, als der Mann im Erstaunen darüber, dass es eine Hauptstädterin wegen solcher Dinge in seine Heimat zog, eifrig mit dem Kopf nickte.

Ich musste an Björn denken, der meine Zwanghaftigkeit, die mich nur in die S-Bahn steigen ließ, wenn ein anderer vor mir den speckigen Knopf zum Öffnen der Tür gedrückt hatte, einer Berlinerin ungebührlich fand. Er gehörte zu denen, die glaubten, ihre Lässigkeit, höchstens noch ihre Trinkfestigkeit berechtigten sie zum Leben in der Hauptstadt, anderenfalls würden sie in die Provinz zurückgeschickt. Das belustigte mich, zumindest muss es so ausgesehen haben, denn Björn nannte mich überheblich. Doch im Gegenteil machte mich sein Glaube, durch eine Anmeldung im Bezirksamt Prenzlauer Berg etwas errungen zu haben, eher verlegen und neugierig.

 

Ein Mal hatte Björn mich über die Weihnachtstage nachhause eingeladen, gerade noch rechtzeitig war mir eine Ausrede eingefallen. Sein Süddeutschland sollte mir immer fremd bleiben, seine seltsame Mischung aus trotzigem Stolz und sporadischen Fluchten, sein R, das er so rollte, dass ich ihn zuerst für einen Russen hielt. Er sagte Nachhause und ich dachte an den Samstagnachmittag, als ich meiner Mutter vier Jahre nach meinem Auszug mit sechzehn bei Bijou Brigitte am Kudamm über den Weg gelaufen war. Sie zeigte sich sentimental und entschuldigte sich, was auch nichts gebracht hat. Mit dem Typen sei Schluss, murmelte sie, Murmeln oder Brüllen, dazwischen gab es nichts bei ihr. Mit dem Typen sei Schluss, wiederholte sie, ich nickte nur. Womöglich sagte sie es ein drittes Mal, doch da war ich bereits aus dem Laden gestürmt.

 

Im Buckower Ortskern, wo ich im Garten eines Cafés auf einen freien Tisch wartete, roch es nach gemähtem Gras. Ein Geruch, den ich, anders als Björn, nicht kannte. Später würde er weit ausholen, um mir zu erklären, wie sehr er alles verabscheute, was ihn an Menschen wie seine Eltern und ihre gepflegten Rasen erinnerte, die ihn zu einem unglücklichen – im Stillen dachte ich: unglückseitlen – Menschen gemacht hatten.

Eine Frau winkte dem Kellner zum Zahlen, dann erhob sie sich, wobei sie ihren Rock glatt strich, und verschwand im Innern des Cafés. Zurück blieb, der Vertrautheit ihrer Gesten nach zu urteilen, ihr Mann oder Freund, von dem ich nur den Rücken sah. Soeben lehnte er sich zurück, um an dem Sonnenschirm vorbei ins Helle zu blinzeln, als ich an den Tisch trat und mich nach dessen Freiwerden erkundigte.

„Setzen Sie sich“, sagte der Mann.

Und ich setzte mich. Ich glaube, damit stand alles fest.

 

Ich schob meinen Personalausweis über den Schalter, stellte meinen Koffer auf die Gepäckwaage und hielt kurz darauf die Bordkarte in der Hand. Ich wusste, dass ich stark sein würde. Stark genug, das Wochenende damit zu verbringen, übers Jesuitentheater nachzudenken, durch die Kopfsteinpflasterstraßen zu gehen und mich nicht davon berühren zu lassen, dass auf diesen Steinen Björn neunzehn Jahre lang gelaufen war, trödelnd als Kind, mal hüpfend und verträumt, als Jugendlicher schlurfend, cool, vielleicht mal mit einem Mädchen an der Seite, was wusste ich schon davon, von ihm. Ich würde barocke Altarbilder betrachten, den goldenen Saal in der alten Universität des Jesuitenkollegs, die Studienkirche, Klosterkirche, die feisten Rokoko-Putten, und der Gedanke reichte aus, in mir alles starr zu machen, zu einer Postkarte gefrieren zu lassen. Plötzlich konnte ich keinen Schritt mehr gehen.

Der Bucklige mit den Kreuzberger Enkelkindern blickte mich verunsichert an und flüsterte, dass auch er zum ersten, nun gut, zum zweiten Mal flog.

 

„Setzen Sie sich“, hatte er gesagt.

Sein Gesicht tauchte von der Sonne in den Schatten ein, als er sich mir zuwandte und den Stuhl, den seine Frau zur Tischkante geschoben hatte, in meine Richtung öffnete. Der Kies knirschte. Beinahe hätte ich gezögert, weil mir das Platznehmen zu forsch erschien, aufdringlich, doch etwas in Björns Lächeln löschte diesen Gedanken einfach aus. Ich griff die Lehne und setzte mich. Björn zog seine Hand nicht schnell genug weg und streifte meinen Unterarm. Ob das absichtlich geschah, wusste ich nicht. Ich hätte es gern gewusst, auch später noch, vor allem später, aber zu fragen wagte ich nie.

Björn nahm seine Sonnenbrille ab, wohl in Erwartung der Rechnung, die der alte Kellner an unseren Tisch brachte und vor mich legte. Dass ihm eine Andere auf diesem Stuhl zum Zahlen gewunken hatte, bemerkte er nicht. Björn zögerte amüsiert, dann presste er grinsend seine Lippen aufeinander. Unsere Blicke trafen sich. Der Kellner sah mich ungeduldig an und ließ die Münzen in seinem Portemonnaie klingeln.

„Mein Mann zahlt“, sagte ich.

 

Für Björn war es dieser Satz, mit dem alles begann. Alles, das waren, wie ich sehr viel später erkannte, nicht mehr als diese vierzig, fünfzig Sekunden unter dem Sonnenschirm eines Buckower Cafés. Unser Lächeln, der unabgeräumte Kaffeetisch und unser Schweigen ließen uns an ein Leben denken, das anders war.

Zu zweit, ich und er. Wer auch immer er war, wer auch immer ich. Ein Leben, das irgendwie leichter war, sonntäglicher, ohne künstliche Sorgen und die Angst vor einem neuen Tag, die mich in der Früh nicht aufstehen ließ, obwohl ich längst ausgeschlafen hatte.

 

Ich zeigte meine Bordkarte vor und ging durch die Sicherheitskontrolle, wieder einige Schritte näher dem Ort, an dem es einen Grabstein gab, der Björns Namen trug. Zwei Zahlen darunter, vielleicht in Gold eingraviert, zwischen ihnen ein Bindestrich, der ein Leben zusammenhalten sollte. Genau deshalb musste ich nach Dillingen: Um zu wissen, dass es in Fußreichweite diesen Grabstein gab, und um stark zu sein. Um mein eigenes Leben zusammenzuhalten, oder das, was davon übrig war.

Ich liebte Björn nicht mehr.

All die Male, in denen er triumphiert hatte, waren eins geworden. An die Einzelheiten unseres Streitens, das doch vielmehr sein Streiten war, denn ein unser gab es nicht, selbst im Streit nicht, nur meine hilflose Stummheit und seinen Vorwurf, ich würde mich hinter meiner Wissenschaft verstecken, dachte ich nicht, nein. Ich wollte nicht an Björn denken, durfte nicht. Nicht an das T-Shirt, das er gerne trug, das dunkelrote, auf dem stand Ist mir egal, ich lass es jetzt so, nicht an die hauchdünne Narbe, die einen Bogen seiner Oberlippe verlängerte und den Mund einer Einladung, einem Versprechen gleich zu öffnen schien und die ich in Buckow auf Anhieb attraktiv fand.

Seine Frau kehrte, die Sonnenbrille im Haar, an den Tisch zurück, fragte, während sie sich ihre Tasche quer über die Schulter hängte, ob schon kassiert worden sei, und nickte zum Abschied, ohne mich anzusehen, während Björn sich erhob.

Es war mir klar, dass ich ihn in ein paar Tagen vergessen hätte.

 

Dass ich noch in der gleichen Woche in der Stabi am Potsdamer Platz auf ihn traf, war Zufall. Die Kongruenz der letzten Ziffern unserer Ausweisnummern ließ uns im gleichen Regal nach den vorbestellten Büchern suchen. Sein Mund, die Narbe waren das Erste, was ich von ihm sah, dann verdeckte ihn ein Stapel Bücher, zwischen uns das Regal. Er schritt es entlang, ungeübter als ich, trat zurück, prüfte aufs Neue, und seine Finger, die aufs Regalbrett klopften, ließen das Blech beben. Ich spürte es, als ich mir von der anderen Seite her meine Bücher griff.

Er trug ein T-Shirt, das ich bei jedem anderen Mann lächerlich gefunden hätte und dessen Bekenntnis meinen Überzeugungen widersprach: Ist mir egal, ich lass es jetzt so. Die Titel, die er auslieh, klangen technisch und sagten mir nichts. Als er mich entdeckte, war alles wie selbstverständlich, bis hin zu seinem „Komm, gehen wir.“ Ich holte meinen Rucksack aus dem Schließfach und folgte ihm.

In Berlin kommt es nicht oft vor, dass sich Wege zwei Mal kreuzen. Björn lebte im Prenzlauer Berg, ich in Steglitz. Nichts war mir je klarer erschienen als diese drei Worte: „Komm, gehen wir.“

 

Am Gate kündigte eine Tafel den Flug nach Augsburg an, ich nahm Platz und es gab keine andere Klarheit als diese: Björn wollte, dass ich mich schuldig fühlte. De mortuis nil nisi bene, meinetwegen. Aber ich war mir sicher, dass Björn sich ausgemalt hatte, wie ich drei Wochen nach seinem Tod an seinem Grab zusammenbräche. Diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun, nein. Die Entscheidung, die er mir genommen hatte, wollte ich mir zurückerobern. Er musste sich vorgestellt haben, wie ich im Moment meines Zusammenbruchs schmerzhaft erkenne, weshalb er mir das Abschiednehmen verweigert hat. Doch ich wusste es auch so.

Seine Mutter ist bis heute davon überzeugt, dass ich Björn verließ, weil der Krebs seinen Körper zerfraß.

 

„Komm, gehen wir…“

Wir redeten die ganze Nacht im Schwarzen Café und die Stadt gehörte uns. In der ersten Zeit gingen wir viel spazieren, fanden unseren Platz, und noch einen, und alle zehn Meter blieben wir stehen, um uns zu küssen. Björn erzählte von seinem Beruf, der etwas mit Technik zu tun hatte, Tontechnik bei einer Plattenfirma, das erzählte er nie ohne Stolz, doch mir war es gleich, ich hörte ihm zu, aber horchte nicht hin, sondern lachte einfach, viel und laut, er tat es mir gleich. Wir sprachen von unseren Familien, unseren Geschwistern, ich erwähnte meine Mutter, Björn seinen Vater und wir wurden leiser.

Seine Frau war häufig auf Dienstreise und über seine Ehe wusste ich nur, dass sie unglücklich war, wie er mir erzählte, ohne dass ich ihn danach fragte. Am Anfang lief es mit Björn und mir gar nicht schlecht.

 

Tatsächlich bekam ich meine Zwänge nun leichter in den Griff. In meinem achten Semester gab ich spontan, ohne mir meine Sätze zuvor zurechtgelegt zu haben, einer Seminardiskussion zur theatralen Dimension der deutschen Nacktkulturbewegung der 20er Jahre die entscheidende Wendung. Kurz darauf fing ich mit der Magisterarbeit an und liebte die Recherche, die Archive. Ich fühlte mich in den Signaturen wohl, im System dahinter, in dieser Ordnung, die meinem neuen Leben zu entsprechen schien: ich liebte und wurde geliebt. Alles war ganz einfach, mit dem Chaos hatte es ein Ende, keine losen Fäden mehr, keine Anita Berber, stattdessen der Geruch alter Bücher, das Klappern der Zettelkästen und das gleichmäßige Flimmern beim Lesen der Mikrofiches. Auch mochte ich Björns scherzhaften Spott über meine Nackten. Es ging uns gut.

Bis Björn seine Frau verließ. Für mich, wie er sagte. Und plötzlich war ich ihm etwas schuldig.

 

„Der Tod kommt in Bruchteilen von Sekunden, die Menschen verdampfen einfach in der Feuersbrunst“, las ich zwei Jahre nach Abschluss meiner Dissertation in einer Reportage, in der es um die brennenden Türme von New York ging. Als ich wiederum einige Jahre später erfuhr, dass es in der Schweiz Bestatter gab, die aus der Asche Verstorbener Diamanten pressten, dachte ich noch einmal darüber nach, über Menschen, die im Tod zu Nichts, Menschen, die zu Diamanten wurden. Ich nannte den Aufsatz The Body of Death: Notes on Dying in a Postmodern Age, und bevor ich mir dessen bewusst wurde, hatte ich ihn Björn gewidmet. Noch Sekunden nach dem Tippen dieser fünf Buchstaben, vierzig, fünfzig Sekunden danach, harrten meine Finger über der Tastatur. Alles war starr, wieder einmal.

Es kam mir falsch vor, Menschen zu Diamanten zu verarbeiten. Als wäre der Mensch so: durchschaubar, funkelnd, glatt.

 

Sieben Wochen waren wir bereits getrennte Wege gegangen, als ich am vorletzten Freitag des Wintersemesters (meines zweiten als wissenschaftlicher Mitarbeiterin), aus meinem Büro in den Flur hinaustrat, um die nächste Studentin in die Sprechstunde zu bitten. Vor mir stand Björn. Er musste auf der Schwelle gewartet haben, denn ich spürte seinen Atem und wie er über meine Wange glitt. Sofort trat er einen Schritt zurück, doch der Moment, in dem wir einen Atem, ein Zittern teilten, riss erst ab, als ich in seine Augen blickte und die blanke Angst darin las. Ich erschrak.

 

Setzen Sie sich. Mein Mann zahlt. Komm, gehen wir. Ist es das, was übrig bleibt? Neun Worte, zwei Begegnungen, ein Zufall? Das war das Schöne, das blieb.

Das Hässliche begann, als Björn mit zwei voll gepackten Reisetaschen und der Überlegenheit dessen, der ein Opfer gebracht hat, vor meiner Tür in Steglitz stand und von nun an mehr Zeit und Aufmerksamkeit von mir forderte als ich bereit war, ihm zu geben. Meine Gefühle für ihn waren die gleichen geblieben, doch seine Erwartung brachte mich gegen ihn auf. Für die Trennung von der Frau, mit der er vier Jahre Ehe und eine Reihe erfolgloser Versuche künstlicher Befruchtung durchgestanden hatte, wollte er entschädigt, wenn nicht gar entlohnt werden. Von mir. Von der großen Liebe, die wir uns in Buckow still erträumt hatten. Aber was ist das schon für eine Liebe, wenn einer, sobald ihm am anderen etwas nicht gefällt, sagt: „Ich kann jederzeit zurück“? Björns Frau hatte der Scheidung noch nicht zugestimmt. Seine Drohungen führten zu Streitigkeiten, an deren Ende zumeist er triumphierte und Entscheidungen traf, denen ich mich leise entzog, was den nächsten Streit provozierte. Er war von seiner Frau gegangen, also stand ich tief in seiner Schuld und mit mir musste es perfekt sein, ich hatte perfekt zu sein oder ihn zumindest glücklicher zu machen als es seine Frau je gekonnt hatte.

Björn begriff nicht, was mir das Graduiertenkolleg bedeutete, dem ich seit wenigen Wochen angehörte, während es mir unbegreiflich blieb, weshalb er überhaupt bei mir einziehen wollte. Gleichzeitig von zwei Frauen geliebt zu werden, schien mir für einen Mann wie ihn doch geradezu ideal. Er sah auf eine leicht unkonventionelle Art gut aus und hatte ans Leben so lustvolle wie einfache Ansprüche. Ein kerniger Typ, sein Körper so robust, dass sich die Krankheit wie Hohn ausnahm. In der Tat glaubte ich ihm den Krebs zuerst nicht, sondern hielt ihn für einen weiteren Schachzug, mich zu erpressen. Zu der Zeit hatte ich ihn schließlich bereits verlassen.

Dabei brauchte ich ihn eigentlich. Die Nächte ausgenommen, in denen ich mich verrucht gab und wie Anita Berber fühlte, war ich immer verstockt gewesen, scheuer und verkopfter als andere, bis Björn mir das Gefühl gab, normal genug zu sein, von einem Mann wie ihm geliebt und über Weihnachten nachhause eingeladen zu werden. Unter gänzlich anderen Voraussetzungen trat ich nun genau diese Reise an und saß bereits eine gute halbe Stunde nahe der hohen Glasfront, die aufs Tempelhofer Feld hinausging.

 

„Es ist Krebs“, sagte Björn, „an der Bauchspeicheldrüse.“ Und: „Ich werde sterben.“ Der Flur war leer, mein Seminar wohl schon im Wochenende, und die Wände umschlossen uns. Ich dachte viel in diesem Moment: Krankheit als Metapher, Susan Sontag, die Symbolik meiner römischen Toten, all das. Björn begann zu weinen. „Du darfst nicht aus Mitleid zurückkommen“, sagte er, als wir nebeneinander durch den frischen Schnee die Grunewaldstraße entlangliefen. Die Straßenlaternen gingen an. Eine blinkte nervös, ich schaute weg. „Oder nur damit ich später kein schlechtes Gewissen habe“, fügte ich hinzu. Björn nickte. Wir waren vernünftig, wir waren erwachsen und wir wussten, was das Beste für uns war: kein Streiten mehr, keine überzogenen Erwartungen und ungerechten Schuldigkeiten. „Ich werd’s schon packen“, sagte er, „ich bin stark.“ Der Schnee dämpfte jedes Geräusch. Vielleicht hätte sich unser Gespräch im Regen anders entwickelt. Gewiss. Ich habe mich oft gefragt, wie ein Schneeregen den Lauf der Dinge verändert hätte.

Am Rathaus Steglitz verabschiedeten wir uns, da ich den Bus nahm und Björn die S-Bahn. Wir umarmten uns, so sehr darauf bedacht, jedes Zu lange zu vermeiden, dass es beinahe nur ein flüchtiges Streifen war. Ich musste an Buckow denken. Als ich ihm vom Bus aus hinterherblickte, hätte er sich nur noch ein Mal umdrehen müssen, ein einziger Blick die Scheiben des 183ers entlang, selbst ein zauderndes Stehenbleiben hätten genügt, mich sofort aussteigen zu lassen. Ich wäre ihm hinterhergelaufen, vielleicht hätte ich rennen müssen. Während der Bus anfuhr, sah ich mich mit leicht geröteten Wangen vor Björn stehen. Er hätte auch einfach bei mir in der Lauenburgerstraße klingeln können; ich habe am Abend auf ihn gewartet. Ich hätte gelächelt und gesagt, dass ich zu ihm zurückkomme, dass ich ihn zur Chemotherapie begleite und diese ganze Scheiße mitmache, weil ich ihn liebe.

 

Wahrscheinlich hätte es nicht funktioniert. Das ist seit diesem Abend die Formel, an der ich mich festhalte. War nicht sein Testament der beste Beweis, diese dreiste Entmündigung? Björn fragte nicht wie Augustus, ob er denn wohl die Komödie des Lebens anständig gespielt habe, sondern er bestimmte kurzerhand, dass dieses Schauspiel für die zweite Hauptfigur noch einen Epilog der Schuld bereithielte. Und er endete mit der Schlussformel: „Wenn aber nun sehr gut gespielt ist, dann klatschet Beifall. Freut euch des Lebens, denn es stimmt nicht, dass der Tod nur für die schlimm ist, die zurückbleiben. Ihr lebt weiter, schminkt euch wieder wie Anita Berber und habilitiert euch in Amsterdam, wohin ich dich einladen wollte, nur sechs Stunden mit dem Zug, aber der Aufsatz hatte am Montag fertig zu sein. Ich muss den Toten spielen, den Nicht-Mehr-Existierenden; ich bin nicht mehr. Ich bin nicht mehr und das kotzt mich an. Ich habe keinen Bock auf das, was da angeblich kommt, und auf Gar Nichts habe ich schon gar keinen Bock. Der Tod ist am schlimmsten für den, der stirbt, glaub mir.“ Daraufhin starb er.  

 

„Kommen Sie doch“, sagte der Bucklige und blickte mich an, unsicher, ob er meinen Arm berühren dürfe. Kaum hatte ich begriffen, dass die ersten Passagiere bereits ins Flugzeug stiegen, da schmeckte ich Tränen auf meinen Lippen. Erschrocken fasste ich an meine Wangen: ich weinte tatsächlich. Und eigentlich weine ich nie. Ich sah den Mann an, wandte mich noch im Aufstehen ab und ging zurück Richtung Abfertigungshalle. Björn war tot. Er war nicht mehr am Leben. Er dachte nicht mehr, liebte nicht mehr, sprach nicht mehr. Sein Leib war zerfallen, sein Geist ausgelöscht. In dem Jahr, als ich meine Dissertation abschloss, fiel es mir bis zu diesem Tag schwer, Tod anders als symbolisch zu begreifen. Plötzlich war Björn tot, nicht mehr da, nichts mehr, weg für immer, und ich bin nicht stark.

 

Banner_TDDL2011 (Bild: ORF)Banner_TDDL2011 (Bild: ORF)