Nina Bußmann, D

Geboren 1980 in Frankfurt am Main, lebt in Berlin. Studium der Komparatistik und Philosophie in Berlin und Warschau. Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften.


Download Text:

PDF-Format (*.pdf)

Informationen zum Autor

Videoporträt

 

 

Nina Bußmann, Große Ferien

Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.

© 2011 Nina Bußmann

 

Man sieht nicht, wie das Kraut wächst. Über Nacht ist es da. Auf Wiesen, Schuttfluren, Triften recken die Kriechpioniere ihre Ausläufer, meterlange, am Boden niederliegende Stängel. Sie wurzeln an den Knoten, sie fassen Fuß in jedem Winkel, der ihnen auch nur halbwegs zusagt. Ameisen tragen die Früchte fort. Durch die Schonung am Hang in die Siedlung hinein, in Hecken, Beete, Rollrasen, bis hinab in den nie besonnten Schacht vor dem Garagentor am unteren Ende der Auffahrtsrampe, in die Ritzen zwischen feuchten Steinen, wo die Regenkette neben dem Ablassgitter sich zum Nest verschlingt. Handtief langen die Wurzeln des Fingerkrauts in die Fugen zwischen den Pflasterplatten hinein. Einige wehren sich mit Gift gegen den unerwünschten Bewuchs, viele greifen zu Gasbrennern, armschlanken Apparaten, sie töten das Grün eilends ab, ohne dass  man sich auch nur bücken muss. Das sieht schön aus, schön und vornehm. Auf Dauer wirksam ist es nicht. Schramm scharrte. Er hieb die Spitzhacke tief in die Ritzen, bis er die Stränge der Wurzeln zu fassen bekam, und lockerte sie in kleinen, wiederholten Bewegungen, einem Stochern und Hebeln. Ganze Pflanzkörper konnte er dann schon mit den Fingern herauszupfen, fester verhaftete mit einem Stück gebogenen Drahts heranholen; zuletzt schabte er abgeschnittene Wurzelhärchen aus den Fugen.

 

Er hatte sich die ganze Auffahrt vorgenommen. Gut drei Tage würde er daran zu tun haben, wahrscheinlich mehr. Zu Störungen käme es von allein. Und er war nicht mehr der Kräftigste. Selbst wenn es ihn packte, wenn er das Werkzeug gar nicht mehr aus der Hand legen wollte und zeitweilig glaubte, alles könne gelingen, selbst und gerade dann durfte er sich nicht vergessen. Er hatte es schon einmal übertrieben, es sollte nicht noch einmal passieren. Es war zu lächerlich. Er hatte dreißig Jahre lang gearbeitet, er hatte keinen Tag gefehlt. Das war nur der Anfang, scherzte er, den Becher in die Runde hebend, als es im Lehrerzimmer eine kleine Feierlichkeit zum Anlass gab: Mich werdet ihr so schnell nicht los, sagte Schramm, Sie können ja gar nicht ohne, meinte ein anderer.

Solche hatte es immer gegeben. Aber wenn sich die Kollegen kurz vor Weihnachten und am Schuljahresende beim Griechen zum Trinken getroffen hatten, war Schramm immer mit dabei gewesen. Beim letzten Mal war er geblieben bis in die Morgenstunden, war wie alles um ihn her immer noch heiterer geworden, bis er die Dinge doppelt sah. Verlierst du denn niemals die Fassung, fragte die Referendarin und stützte ihren Kopf in die Hand, um ihn von unten her anzusehen. Schramm schlug mit der Klinge des Werkzeugs gegen die Pflastersteine, dass es Funken gab. Dabei konnte er mit sich zufrieden sein. Bald hatte er die erste Reihe beendet, und die erste ist die schwierigste. Fast war er angelangt bei dem Fleckchen ebener Erde vor der Grasböschung, wo die Clematis wuchs, ihre Trugdolden filzig in seinen Nacken welken ließ, die Stiele um die Drähte wand, die Schramm gespannt hatte für sie.

 

Klassenführung ist kein Hexenwerk, sagte er zur Referendarin, und es wurde wieder vernünftig um ihn: Bei der Sache sein muss einer, muss wissen, wo er steht und welcher Schritt als nächstes zu tun ist. Kinder riechen den Braten, sie wissen, hob er an, wenn einer sich seiner Sache nicht sicher ist, nicht weiß, wo es als nächstes, weißt du eigentlich, wie sie dich nennen, fragte sie und barg ihren Mund hinter der Faust, blinzelte hinauf zu ihm mit kurzen, kittschweren Wimpern, die zerbröckelten zu Rußsplittern auf ihr Tränenbein. Weißt du, wie sie dich nennen! Was sie das kümmerte, hätte er fragen müssen. Zumindest fiel in keiner seiner Stunden ein lautes Wort. Und als einmal etwas geschehen war, hatte er von sich aus einen klaren Schnitt gesetzt.

Es stimmt nicht, dass einem die Decke auf den Kopf und man selbst in eine Leere stürzt, wenn die gewohnten Pflichten wegfallen vom einen auf den anderen Tag; dass man vom einen ins andere Zimmer schleicht und nicht hört, wie man anfängt, das Wort an sich selbst zu richten, vergreist, froh und dankbar, wenn der Anruf einer Firma kommt, eine Meinung zu erfragen, einen Verkauf zu tun. So weit braucht es nicht zu kommen. Einen Rhythmus müssen die Tage haben, Anfang und Ende und immer die gleiche Form, eine Form, die man mit beiden Händen packen kann. Das ist nicht langweilig, das ist nur nützlich, wenn man sich auf eine Aufgabe konzentrieren muss. Und alles, was lebt, hat seine Aufgabe, an der es sich schließlich zerreibt. Wenn Schramm Bier kaufte, musste keiner seine Schlüsse ziehen, das Bier war für die Schnecken gedacht. Es gab zu viele davon. Entlang der Grasgrenze glitzerten ihre Spuren, ihre schwingend an den Spitzen der Halme entlang gesponnenen Fäden, verfangen in den Poren des Betons. Einmal in der Kindheit hatte er einen ganzen Ballen von ihnen gefunden, in dem Winkel des Gartens, wo er sich als Junge so gern aufgehalten hatte, hinter dem vom Vater bei irgendeiner angefangenen Arbeit angelegten Erdhügel. Schaum schwitzend, ästen sie am verendeten Käfer, eng um seinen Panzer geschmiegt, bloß noch die Enden seines Geweihs staken aus dem Haufen hervor. Eine Umhegung gebaut hatte Schramm, Stöcke und Steine geschichtet, dicht aneinander gelegt, in der festen Annahme, die Tiere blieben, wenn man ihn wieder ins Haus geholt hätte, wenigstens bis zum nächsten Morgen an ihrem Platz. Aber sie verkrochen sich am Tag und fraßen in der Nacht, sie suchten und fanden die jüngsten Pflanzen und richteten Schaden an. Er streute Linien aus Kalk zur Abwehr, er stellte täglich neue Fallen auf. Frisch musste es sein, frisches dunkles Bier, damit es sie machtvoll anlockte und sie ertranken darin.

 

 

Er werde seine Gründe haben, hieß es über Schramm, das wusste er, wusste, wer auf ihn zeigte im Vorübergehen, wenn er über einer Arbeit kauerte, hockte oder kniete, aber er konnte sich nicht auch noch darum kümmern, wie man ihn sah. Leicht, sich herzuleiten, warum es Misstrauen erregt, wenn einer mit Sorgfalt vorgeht. Wiederum drängte sich als Beispiel Waidschmidt auf. Man konnte über Waidschmidt sagen, was man wollte, mögen musste man ihn gewiss nicht. Er war, in aller ausgestellten Askese, ein durch und durch verzogener Junge gewesen, berechnend und keiner menschlichen Regung fähig. Aber das durfte nur einer sagen, der ihn kannte, die allermeisten wussten so gut wie nichts über ihn. So sehr gespottet und sogar geklagt wurde, selbst von den Lehrern geklagt wurde über seine Pedanterie, seinen übertriebenen Fleiß; so groß war das Geschrei, als er beinahe vom einen auf den anderen Tag in Verweigerung umschlug. Was die Menschen nicht ertragen, ist, wenn einer konsequent vorgeht. Er übertreibe, hieß es über Waidschmidt, er übertreibe, hieß es über Schramm. Gerade daran mochte Schramm jetzt nicht denken. Beim Versuch, ein Auto anzuhalten, war Waidschmidt aufgegriffen worden, kurz vor dem für die letzten Prüfungen angesetzten Termin, nachdem er offenbar für Tage gelaufen, ohne Schlaf, Nahrung, Wasser, einfach nur gelaufen war. Insgesamt mussten seine Angaben wirr, sein Zustand bedenklich gewesen sein. Und als man ihn in die Klinik brachte, sollte er sich einverstanden, ja begeistert gezeigt haben.

 

Ganz gleich, wie geschwätzt und geflüstert wurde über Schramm, vor und hinter seinem Rücken über seine Mutter und ihn, über Waidschmidt und ihn, nichts davon traf auf diese von Zweck und Zufall bestimmten Verhältnisse auch nur annähernd zu. Wir wissen nicht, was der andere denkt. Kein neuer und kein schwieriger Gedanke, aber ein richtiger. Und im Reden ändert einer nichts daran, im Reden ändern auch zwei in Einigkeit nichts daran, sie können sich ihrer Einigkeit noch so sicher sein, sie machen sich doch nur selbst und gegenseitig etwas vor. Gründlich genug hatte Waidschmidt diese Sachen in seinem harten Schädel hin und her gewendet. Das wusste Schramm besser als irgendein anderer und verstand doch nicht alles, wusste nicht, wie ernst es ihm war mit seinem angedauten, hingeworfenen Gedankengewöll, nicht, ob er seine großen Worte bloß so auf Probe dahin sagte, ob er eine Absicht verfolgte.

 

Mit dir wird es Geschichten geben! Das hatte Schramm von Anfang an gewusst, schon gleich, als der Junge als Neuer vor der achten Klasse stand. Mit seiner Mappe. Keine ganze Woche, daran erinnerte Schramm sich gut, nicht die sonst übliche Schonfrist verstrich, ehe er den Spott der anderen auf sich zog, ihre Verachtung und endlich ihren Hass. Seine zur Schau getragene Schläfrigkeit reichte hin, damit sie nicht locker ließen; für Arroganz gab es ein empfindliches Gespür. Und man darf auch nicht denken, weil es in Schramms Fächern um Naturdinge geht, kenne er nur seine Berechnungen, seine Regenkarten und Versuchsaufbauten, Wechselwirkungen von Materie und Energie. Für die Verwicklungen unter Menschen fehle ihm hingegen jeglicher Sinn. Das Gegenteil war der Fall. Er sah, was vor sich ging, er wusste, wie sie unterschieden zwischen Herr und Knecht, Freund und Feind. Aber es war falsch, sich in die Belange der Kinder einzumischen. Im Fall Waidschmidts nicht nur falsch, im Fall Waidschmidts war es ganz und gar unnötig. Larven, sagte Waidschmidt, sie führen eine Larvenexistenz, sie fressen, was man ihnen vorsetzt und wollen immer gerade eben nur so viel, nichts darüber hinaus. Man braucht doch einen Feind, erklärte er, sonst weiß man nicht, wo man steht. 

Nicht älter als vierzehn, als er Schramm diese Gedanken darlegte, gleich, als er ihn zum ersten Mal vor dem Kartenzimmer abgepasst hatte, weil er mit einer Beweisführung nicht zufrieden war. Die Fußspitzen nach außen gedreht, die Mappe vor den Bauch geklemmt, stand er da. Wann immer Schramm an Waidschmidt dachte, dachte er an die Mappe, diese aus tabakfarbenem Lederimitat gefertigte, an den Ecken schon hässlich abgeriebene Mappe. Die nötigen Bücher fanden darin unmöglich Platz, nichts als der dünnblattrige Block, den Waidschmidt in der letzten Reihe, in seiner kleinen spitzen Schrift, Seite um Seite beschrieb. Und obwohl man es sich in diesen Dingen nicht zu einfach machen darf, dachte Schramm, sagte diese Mappe wahrscheinlich doch schon alles Nötige über ihren Besitzer aus. Es war Schramm nicht recht gewesen, dass er auf ihn wartete, bald jede Pause auf ihn wartete bei dem Zimmer mit den Kartenbeständen, für deren Ordnung und Wahrung Schramm verantwortlich war. Hätte er ihn gleich in seine Schranken gewiesen, dachte Schramm, gleich gehört auf das niemals beherrschende, doch von Anfang an vorhandene kleine schlechte Gefühl. Auf jede Antwort wieder eine Frage, auf jede Aussage hatte Waidschmidt einen Widerspruch, doch gehörte das in diesem Fall dazu, wie bei jedem Gespräch, das diesen Namen verdient, in dem es einmal nicht um Rechthaberei, sondern um die Sachen selbst geht, ein Gespräch, das nie abschließend beendet, immer nur unterbrochen werden kann. Darum hatte er sich hineinziehen lassen, und nichts bedacht. Nicht, was den Jungen antrieb, ob er sich einen Vorteil versprach.

 

Immer waren die großen Ferien eine kritische Zeit. Solange die Mutter gelebt hatte, war es nicht leichter, es war um vieles verwickelter gewesen. Ihr hätte er die Sache unmöglich begreiflich machen können, ohne verhöhnt zu werden, und zwar zu Recht, dachte Schramm, zu Recht schätzte die Mutter Knappheit und Klarheit. Kappes, rief sie, sobald sie witterte, dass einer seine Behauptungen selbst nicht ganz gar hatte, und ihre Nase war, was diese Dinge betraf, fein. Kappes, und damit war das Gesagte erledigt für sie, eingedrückt im Zigarettenstummel auf Aschenbechergrund, einsortiert in die dürren Rubriken in ihrem Kopf. Bilanzen aus Soll und Haben, ein einfaches System. Noch als sie ins Stift gekommen, im Fragen ungenauer geworden war, konnte er niemals sicher sein, was die Krümmung ihrer Mundwinkel ihm anzeigen sollte, ob sie seine Aussage anzweifelte, missbilligte oder gar nicht mehr erfasste, wenn er sie in kleinen Dingen, um sie zu schonen, belog. Oder ob nicht mehr sie, sondern ihr Leib als letztes über diesen Ausdruck verfügte, ihn hervorholte, um wenn schon keine schöne, wenigstens eine Form zu wahren, als ihr Verstand mit dem Gesagten keinen Inhalt mehr verband.

 

Einmal die Hand ausgerutscht, damit wäre es für sie erledigt gewesen, eine zutreffende Beschreibung war es nicht. Doch keinem war gedient, wenn wieder und wieder an den Ereignissen herumgetastet wurde, oder an der, wie es die Rektorin bei ihren letzten Anrufen genannt hatte, Angelegenheit. Lange kann man in einer Kette von Rechenoperationen den Fehler suchen, wenn man ganz im Anfang von falschen Größen ausgegangen ist. Das würde er nicht mehr tun. Störer kamen früh genug, sie kamen von außen, und sie kamen von allein. Spätestens gegen halb zehn die Ansagen des Bademeisters aus dem hangaufwärts gelegenen Waldbad, das Rufen und Jauchzen der Kinder, wenn sie einander nachjagten auf den kaum befahrenen Siedlungsstraßen. Die Striche ihrer Kreidezeichnungen reichten bis knapp an die Rampe seiner Auffahrt heran. Er hörte sie flüstern hinter seinen Hecken, er sammelte regelmäßig aus Büschen und Beeten ihr über die Hecke geflogenes, im Übermut geworfenes Spielzeug auf. Und einmal hatte er es auch im Guten mit ihnen versucht: Alle mal hersehen! rief er aus, in der Mitte der verkehrsberuhigten Straße aufgestellt, die Schachtel mit seinen Fundstücken in der ausgestreckten Hand. Doch griff keines hinein, sahen sie alle nur ihn an, als wäre so schwer zu begreifen, was er von ihnen wollte.

 

Es war nicht richtig, das hatte Schramm gleich gewusst. Erst recht, als Waidschmidt kurze Zeit später wieder und dann noch einmal zu ihm gekommen war. Doch musste er es die ersten Male jeweils für etwas Einmaliges halten, so dass er ihn nicht fortschicken wollte, es später nicht mehr konnte, da eine Regel daraus geworden war. Aber wenn er bald alle Pausen, mitunter auch die Nachmittagsstunden bei ihm verbrachte, dann war das nicht Schramms Wunsch, es geschah auf Waidschmidts Antreiben hin. Er ließ sich nicht fortschicken, nicht mit der Warnung, es würde Gerede geben, darüber lachte Waidschmidt nur. Wie er lachte, als Schramm ihm zuletzt die Bestnote verweigern musste wegen scheinbar unerheblicher Fehler, lachte, wenn er ihm eine Formel nicht herleiten wollte, weil es für den Moment zu schwierig war: Sie sind Lehrer, sagte er, Sie müssen die Dinge klären und nicht ein Geheimnis daraus machen.

 

So redete er, und so musste er ja reden. Noch zum Schluss, als Schramm ihn zu sich bestellt hatte, weil er aus seinem Verhalten nicht mehr klug geworden war. In das Kartenzimmerchen, das Schramm übrigens, bei aller doch angenehmen Absonderung, nicht liebte. Es gab nichts Besseres dort. Ich kann nicht warten, sagte Waidschmidt, nicht warten, bis ich hier heraus bin. Du verrennst dich, mein Lieber, sagte Schramm, hielt ihm die Zettel der letzten Klausur unter das Gesicht, zeigte die nicht einmal schwerwiegenden, nur in ihrer Summe erheblichen Fehler. An die Wand gelehnt, sah Waidschmidt auf das Blatt hinab, stand bequem, als ginge es schon um gar nichts mehr, dachte Schramm: So wird nichts aus Amerika, sagte er. Und hörte ihr Jubeln, noch durch die geschlossenen Fenster konnte er es vom Pausenhof hinauf schallen hören, ihr Rufen und Johlen, das hohle Scheppern, wenn ein Ball gegen das Gitter hinterm Torpfosten prallte, und zum ersten Mal aus Waidschmidts Mund das Wort wir.

Kurz vor den Prüfungen war es gewesen, nicht anders als in allen Jahren, als die Achtzehnjährigen, bis es hell wurde, zum Trinken auf der Wiese am Weiher saßen, die ganzen kurzen Nächte bei Schnaps und Schwüren im nassen Gras um ein Feuer herum, selbst solche, die einander noch vor kurzem kaum angeschaut hatten, sich fürs Leben verbrüderten, gerade eben, bevor sie für immer auseinander gehen sollten. Kurz vor den letzten Prüfungen, dass Waidschmidt in der Nähe gewisser Gruppen gesehen wurde. Das sollte er ruhig tun. Das war nichts Besonderes, nicht das erste Mal, das wusste Schramm und kannte sich doch nicht mehr aus.

 

Schabernack, sagte Schramm, wenn er an das Heft dachte. Aus der eingerollten Karte der Meeresströmungen war es im Unterricht herausgeglitten, zu Boden gefallen. Das Mädchen aus der ersten Reihe klemmte die Karte im Halter fest. Alle anderen schauten, noch von der letzten Sitzreihe schauten sie auf das zu Schramms Füßen liegende Magazin, das Bild, auf dem zu vieles gleichzeitig zu sehen war, zwei Paar Arme, aus einem Rumpf gewachsen, in drängelnden Verrenkungen, ein Körper, der den nächsten verdeckte, gerade eben sehen ließ, dass da einer wie ein Hund über dem anderen hing. Nichts wurde einem ganz gezeigt in diesem Bild, alles ließ sich ahnen, und das war es, dachte Schramm, was es im Ganzen noch aufdringlicher machte, noch unerfreulicher. Wie sie in ihren Reihen hockten, bald Erwachsene, hockten und lauerten, was als nächstes passierte. Und das groß geratene Mädchen bei der Karte, der im Halter aufgerollten, nachzitternden Karte, stand vor den kreisenden Pfeilen auf blauem Grund, stand beim Kartenrand und rührte sich nicht. Nur die Flecken aus ihrem dünngewaschenen Halsausschnitt blühten über die Wölbung ihrer Wangen, bis an die Bucht ihres unsauberen Scheitels hinauf. Schramm tippte mit dem Fuß das Heftchen an, gab ihm einen Tritt, dass es aufflatterte, eine Schrittlänge entfernt liegen blieb: Was ist, sollen wir bis morgen warten, fragte er, und es wurde schon wieder ruhiger in ihm, während er wartete, dass sie sich steifhüftig bückte nach dem Heft, es zugeklappt an ihren Platz trug, ehe er eine Überschrift an die Tafel setzte, über den Gegenstand der Stunde zu sprechen begann.

 

Er wusste nicht, was Waidschmidt mit der Sache zu schaffen hatte. So wie er nicht wusste, niemals wissen würde, hatte der ihn angeschwärzt oder sich ausgeschwiegen, Andeutungen gemacht oder alles abgeleugnet. Angeschwärzt und dann die Nerven verloren, weil es zur Hälfte erlogen war. Schramm würde zu keinem Ergebnis mehr kommen, nicht einmal für sich selbst zu einer Feststellung, welche der Möglichkeiten ihm am meisten missfiel. Und konnte den Finger nicht legen auf den einen Punkt, an dem die Veränderungen begonnen hatten, ihm die ersten Bedenken gekommen waren. Nicht erst, als Waidschmidt anfing, kleine Fehler zu machen, gerade in den letzten Klausuren keine schwerwiegenden, aber doch richtige Fehler, wie sie aus Nachlässigkeit geschehen. Einer in Wahrheit höchst absichtsvoll gesetzten Nachlässigkeit, wie man sie kennt von jenen, die auch einmal zeigen wollen, dass sie es nicht nötig haben. Darum hatte er sich in seiner stumpf beharrenden Art Freunde und schließlich ein Mädchen gesucht. Eine wie viele, dachte Schramm. Morgens saß sie mit ihren Traubenzuckerwürfeln und gespitzten Stiften am Platz, mit feuchtem Haar, zum Knoten gewunden, scheitelhoch festgesteckt, dass man zuschauen konnte, wie es sich in ihrem Nacken trocknend bleichte. Wenn er sich neben sie beugte, um ihre Rechnungen zu prüfen, konnte er sie sehen, die aus der Frisur gezausten Federchen, den undeutlichen Übergang in den sandblass verschossenen, den Hals hinab unter den Kragen wachsenden Flaum. Fehler erlaubte sie sich kaum, aber ob sie darum etwas Besonderes war. Was einer wie Waidschmidt mit einem Mädchen wie diesem zu bereden hatte, was einen wie Waidschmidt überhaupt bewogen hatte, abzusehen von einer über die Jahre, mit Entschiedenheit durchgeführten abgesonderten Existenz. Was tut es zur Sache, fragte Waidschmidt, wenn ich fragen darf.

 

Ein Versuch, etwas anderes konnte sie für Waidschmidt nicht gewesen sein, ein Versuch, so hätte er es schließlich auch selbst genannt, dachte Schramm. Blank gescheuerte Beine, schwarze Brauen, noch unterm Mützenschirm zweifelnd zusammengezogen, wenn sie in den Freistunden und nach dem Unterricht gegen sich selbst trainierte, wieder und wieder den Ball mit Wucht gegen die Außenwand der Turnhalle schlug. Wie er sich den anderen angeglichen hatte, in kürzester Zeit an sie angeschlossen, besser noch: herangeschmissen hatte, dachte Schramm, sich angedient, dass es zum Schämen war.

 

Es war ihm nicht recht gewesen, wie sehr der Junge seine Nähe gesucht hatte, aber als er fortblieb beinahe vom einen auf den anderen Tag, kam es Schramm ebenso ungut vor. Und auf keine seiner klärenden Fragen gab Waidschmidt eine Antwort, tat sie ab stattdessen mit blassen Redensarten und ablenkenden Gegenfragen. Dieses und jenes reden wir, das verstehen Sie doch, dass es da um nichts Großes geht. Und mit dem Heft, was soll denn gewesen sein mit dem Heft, worauf wollen Sie hinaus. Sie müssen schon genauer werden, forderte er, wenn ich wissen soll, wovon die Rede ist. Sie sind der Lehrer, Sie müssen die Dinge klären, und nicht im Ungefähren lassen. Das sagte der Richtige! Ein Ausweichen, dachte Schramm, ein großes Ausweichen und Ablenken statt einer einzigen brauchbaren Antwort, so dass er ihn, das einzige Mal, das er ihn zu sich gebeten hatte, auch schon wieder fortschicken wollte, weil er ihn an keiner Stelle zu packen bekam, doch noch mit der Hand an der Tür, halb schon herausgewunden drehte Waidschmidt sich noch ein Mal um.

Wie halten Sie das eigentlich aus, fragte Waidschmidt: Ich an Ihrer Stelle, ich hätte längst den Verstand verloren. Und er strich eine rasch sich schließende Schneise durch das neuerdings länger gewachsene Haar, stand und lauschte freudig dem Nachklang seiner Worte, indes das Lämpchen über dem Türsturz zum Pausenende zu blinken begann, das Rufen und Trappen in die Flure vor dem Zimmer drang. Du reitest dich hinein, warnte Schramm, du wirst dich noch einmal umgucken. Aufpassen, warnte er, wie er warnte, wenn einer mehr Fehler machte als üblich, aus Mangel an Aufmerksamkeit: Es hat schon viele gegeben wie dich. So redete er und merkte doch, dass Waidschmidt schon gar nicht mehr bei der Sache war. Als rechnete er mit dem, was als nächstes käme, dachte Schramm, als wüsste er schon alle Sätze, und er, Schramm, kannte sie ja selbst: Wer zu viel will, will nichts, weiß er doch im tiefen Innern selbst, dass er es nicht erreicht, schneller als gedacht, ist ausgeträumt. Denk einmal darüber nach. Waidschmidt streckte seinen Nacken, Kinn an der Brust. Verstand verloren oder umgebracht, sagte er, oder beides, beides nacheinander.

 

Und es war niemandem die Hand ausgerutscht. Nichts, wie Schramm jetzt wieder denken musste, war zufällig geschehen, alles hatte Waidschmidt mit einem Plan und einer Absicht hingeführt zu diesem einen Punkt. Jede Äußerung ein Zug, der auf jeglichen Gegenzug eine Erwiderung wusste und auf den folgenden wieder eine. Und sogar den sogenannten Zusammenbruch, dachte Schramm, mitbedacht und mitgeplant als die aus dem Vorangegangenen notwendig folgende Konsequenz. Bis zum Schluss, dachte Schramm, ist er dir voraus gewesen, über und voraus, noch als Waidschmidt mit ihm auf seine Hand schaute, auf Schramms zum Schlag erhobene, im Zaudern gefrorene Hand. Jetzt haben Sie ausgeholt. Waidschmidt lächelte.

 

Da hätte er vielleicht endlich bekommen, was er verdiente, und er verdiente es nicht nur, dachte Schramm, er brauchte es sogar unbedingt. Einmal entgeistert werden, einmal entsetzt. Den Schreck spüren, in dem jeder nackt aussieht und dumm, wenn ihm die Sprüche ausgehen, wenn er einmal angefasst wird und einer zudrückt, drückt, so fest er kann. Ausgeholt, nun schlag auch zu, dachte Schramm, das war, wohin er gewollt hatte mit seinen Anspielungen, seinen Bemerkungen, das war, was sie alle miteinander in Wahrheit wollten und wünschten, dass eins zum andern kam und ihr Tun nicht ohne Folgen blieb. Ohne Zwinkern sah der Junge ihn an, nur das Zittern des rechten, etwas tiefer hängenden Lids, vor allen Eifer, alle Angst gezerrt, vor alle Verzückung, dass endlich etwas geschah.

 

Hier gibt es nichts zu gucken, sagte Schramm und umfasste den Griff des Werkzeugs fest mit beiden Händen. Das konnte noch kommen, dass er ihnen drohte, wenn sie sich beim Spielen zu lang, zu nah vor seinem Tor herumdrückten, Stirnen an die Stäbe pressten, hinab zu ihm in die Senke spähten, in den Vorgarten hinein. Er zeigte die Hacke, zeigte einen Stein, wie man es erwartet von einem, der natürlich immer wunderlicher wird, ohne Frau, ohne Kind, und nicht einmal ein Hund. Aber dafür war es jetzt noch zu früh.

 

Banner_TDDL2011 (Bild: ORF)Banner_TDDL2011 (Bild: ORF)