Michel Božiković, CH

Geboren 1971 in Zürich, lebt in Zürich. Studium der Philosophie, Politologie und Publizistik in Konstanz und Zürich. 2006 – 2008 Executive MBA Nachdiplomstudium in Zürich, Yale & Fudan.

Michel Božiković wurde von Jurorin Hildegard E. Keller für die TDDL 2011 vorgeschlagen.

 


Download Text:

PDF-Format (*.pdf)

Informationen zum Autor

Videoporträt

 

WESPE

von Michel Bozikovic

Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.

© 2011 Michel Bozikovic

 

Man bleibt auf dem Hügel liegen, die halbe Nacht lang, zwischendurch, wenn man kurz zu sich kommt, geht man weiter, weiß nicht, ob es der richtige Entschluss gewesen ist, sich nicht zu erschießen, und man hadert, hadert die ganze Nacht lang, immer, wenn das Bewusstsein zurückkehrt, ein Zirkel von links nach rechts und zurück und immer im Kreis herum, Leben, Sterben, was zum Teufel ist schon der Unterschied? Es liegt auf der Hand, man muss leben, so lange man kann, und der Mond und die Insel lassen einem keine Chance, der Anblick ist zu stark, Ewigkeit bis auf die Knochen.

Also legt man sich wieder hin, die Pistole auf dem Herzen und die Gedanken bei der Familie, bei den Eltern, bei den Brüdern, manchmal auch bei der Freundin, die man zu lieben glaubt, doch es sind die Visionen, die einem zu schaffen machen, die Visionen der Eltern, wie sie vor dem eigenen Grab stehen und auf einen hinunterschauen, gebrochen, die Brüder bleich, und irgendwann verändert sich das Licht, der Mond scheint nicht mehr, kämpft verzweifelt gegen die Sonne an, die ein Rosa vorausschickt, das einem das Herz bricht, und man weiß wieder, dass man leben will und sei es, um so einen Moment noch einmal zu erleben, da hört man ein Bimmeln, das leise Bimmeln von Glöckchen, und schon ist es wieder weg und man denkt, man halluziniert, wäre auch kein Wunder nach drei Tagen ohne Schlaf, nach einer Nacht, in der man wach gelegen hat wie ein Medizinmann in Trance, ein suizidaler Schamane ohne das Wissen seiner Vorväter, und man wünscht sich, man hätte deren Hilfsmittel, geflogen wäre man und hätte den Schmerz nicht gespürt, wäre vielleicht gesprungen und wieder im Bett erwacht, tausend Kilometer nordwestlich, ein Castaneda Dalmatiens, aber dann hätte man sie vielleicht nicht gesehen, die kleine Wespe, die im Zick-Zack auf einen zu geflogen kommt; was zum Henker tut sie hier, fragt man sich, es gibt doch hier nichts zu Fressen für dich!

Du Dummerchen, möchte man ihr zurufen, und es kommen einem die Tränen angesichts dieser kleinen Kreatur, was ist sie filigran, und doch lebt sie ihr Leben ohne Murren, ohne Wenn und Aber, und sie setzt auf der rechten Stiefelspitze auf, nachdem sie ein, zwei Runden um einen herum gedreht hat, es fühlt sich an, als spüre sie, in welchem Elend man sich befindet, umarmen möchte man sie für ihre Gegenwart, dieses kleine Ding, und beginnt mit ihr zu reden, Franz von fucking Assisi, um Gottes Willen, nein, es ist ein Leben, das zu leben sich lohnt, und sei es nur, um andere umzubringen, wie die Wespe, diese kleine, brutale Mörderin.

 

Die Freundin hat geweint in dieser Nacht, in den Bildern, die man vor dem inneren Auge gesehen hat, sie hat geweint und man war sich sicher, dass sie denselben Traum gehabt hat, und die Eltern auch, denn mittlerweile mussten sie die Notiz gefunden und diese Nacht in Angst verbracht haben, und man hasst sich dafür, wie konnte man ihnen das antun, die Tränen der Mutter, die Sorge des Vaters, für nichts und wieder nichts, aber hätte man ihnen sagen können, man wolle in den Krieg, sterben für ein Heimatland, in dem man nie gelebt hat, das selbst nie nach einem verlangt hat, verteidigen, beschützen, ja wen denn, eine Idee, ein Ideal? Und man denkt an Franco, diesen Wichser, und all die jungen Männer und Frauen aus ganz Europa und der ganzen Welt, die kamen, um Menschen zu verteidigen, die besseres verdient hatten, und wo sind sie jetzt, die Männer und Frauen aus Europa und der ganzen Welt, wo bleibt ihre Hilfe, hätte man zu den Eltern gesagt, und sie hätten es vielleicht eingesehen, aber man hat es nicht getan, auch weil man das Auto nicht bekommen hätte, auf gar keinen Fall.

 

Die Wespe riecht die Tränen, spürt den Schmerz, sie sitzt immer noch da, und als man sie bittet, näher zu kommen, man werde sie auch nicht zerdrücken, da flattert sie mit ihren Flügeln, erhebt sich langsam wie ein kleiner Helikopter, neigt die Flügel nach vorn und nähert sich einem ohne Hektik, und man weiß nicht, ob man die Hand ausstrecken soll, oder ob man sie damit erschrecken würde, aber sie hat keine Angst, kein bisschen, sie kommt näher, riecht am Lauf der Pistole, sie mag den Schwefel, der kleine Teufel, und man sieht ihre Beißzangen, weiß, dass sie damit andere Kreaturen umbringt, glatt halbiert, und es ist, als untersuche sie die Pistole, um zu sehen, ob man ebenbürtig bewaffnet sei.

Sie setzt sich auf den linken Unterarm, auf das weiche Leder, das sich in der Morgensonne, die alles in Rot taucht, langsam erwärmt und beinahe orange leuchtet, und sie schaut einen an aus tausend Augen, als wolle sie einem sagen, es sei der richtige Entscheid, weiter zu leben, weil zu leben auch ihr bestimmt sei, und man nicht wissen kann, wann der Vogel kommt, der sie frisst oder wann ein Feind einen erschießt, mach einfach weiter, scheint sie zu sagen, friss, töte und stirb, wenn deine Zeit gekommen ist.

 

Die Sonne gewinnt den Kampf auf ein Neues, löst den Mond ab und man kann die Inselkette in der Ferne erkennen, wie sie in Strahlen getunkt wird, und das Rot wird intensiver, und da kommt sie hervor, erhebt sich in aller Selbstverständlichkeit, die rote Linie zieht sich über die Inseln, und sieh’, es ist die Sonne, sagt die Wespe und schaut einen an, beäugt das rote Gesicht, in dem die Tränen glühen, betrachtet den roten Feuerball in den wässrigen Augen und beide wissen, dass man kämpfen wird, dass beide kämpfen werden, bis der große Vogel kommt.

 

Wieder das Bimmeln und man ist sich nicht sicher, ob es ein schlechter Scherz der überspannten Sinne ist oder ob da tatsächlich Glöckchen erklingen: Die Wespe hebt ab, ganz langsam, ruhig, die Augen auf einen gerichtet fliegt sie, als wolle sie einen damit segnen, eine Runde um einen herum und schwirrt davon, weg von der Kreatur, der sie vielleicht das Leben gerettet hat, und es bimmelt immer lauter, und man kann es lokalisieren, es kommt von hinten, irgendwo hinter dem nächsten Hügel bimmelt es und sagt einem, dass es Zeit ist, zu sich zu kommen, sich zusammenzureißen und aufzustehen, dem neuen Tag ein lebendiges: „Hallo, hier bin ich!“ entgegenzuschleudern und den Entscheid, vorerst am Leben zu bleiben, zu bekräftigen, in dem man eine erste Handlung vollführt, und es muss eine unwiderrufliche Handlung sein, eine die ohnehin unvermeidbar ist: Man muss runter zum Auto, denn das wird gefunden werden. Und man darf die Soldaten, die kommen werden, nicht weiter beleidigen, indem man Spielchen spielt, man wird ihnen sagen, dass man sich umbringen wollte, weil man keinen Sinn mehr sah, da bellt ein Hund und man dreht sich um und vor einem steht ein großes Vieh mit scharfen Augen und langen Zähnen, es schaut einen an, fixiert einen regungslos drohend, bis der Besitzer kommt, ein Hirtenjunge, der mit seiner Herde durch diese Steinwüste zieht. Der Junge hebt seinen Stock und lässt ihn mit einem leisen, aber sauber definierten Klack auf einen Stein fallen, worauf der Hund sich umdreht und zu ihm zurück geht, sich kurz an sein Bein lehnt und sich gleich wieder um seine Ziegen kümmert: Er dirigiert sie weg von der Gestalt, die nicht ins Bild passt und nichts in seiner Welt verloren hat, weg von einem weiteren, der vom Virus Wahnsinn angesteckt ist.

Der Junge sagt nichts, macht auch keine Anstalten, einen zu grüßen, und man wird sich darüber bewusst, was für einen Eindruck man auf jemanden machen muss, der in aller Herrgottsfrühe mit seinen Ziegen über einen Hügel gezogen kommt und plötzlich vor dieser Figur in Schwarz steht, die eine riesige Pistole in der Hand hält, und man denkt sich, mein Gott, eigentlich bleibt der Junge unglaublich gelassen angesichts der Situation und des Anblicks, den man ihm bietet.

Man steckt die Waffe betont langsam ein, ganz beiläufig, dann winkt man ihm zu, mit der rechten, jetzt freien Hand, und der Hirtenjunge nickt, dreht sich um und geht nach links, verschwindet hinter dem Hügel, hinter dem er hervor gekommen ist, und da sitzt man nun und man weiß, dass der Junge vor einem auf Menschen treffen wird, wenn man sich nicht beeilt, und er wird zu irgend jemandem sagen, dass da eine verrückte Gestalt in Schwarz auf dem Berg sitzt, mit einer Pistole in der Hand, und hoffentlich sind es Zivilisten oder vielleicht Soldaten, denen er davon erzählt, nur keine Polizisten oder gar der von letzter Nacht, also macht man sich auf.

Die Schritte sind wacklig, aber man schafft es ohne Stolpern und ohne auf die Fresse zu fallen; entweder erinnern sich die Füße an den Weg oder es sind die Müdigkeit und der leichte Kopf, und wozu auch gekochte Hühnerfüße mit Pejote und Kokasaft, wenn da die Insel ist und der Mond und die Sonne und das Meer und der Berg und die Sinnlosigkeit und gottgesandte Wespen und der große Vogel mit seinen Panzern und Granaten und Kugeln.

 

Das Auto ist abgeschlossen, man wird warten müssen, und so setzt man sich daneben, lässt die Beine über den Strassenrand baumeln, wo das Meer dreißig Meter weiter unten rauscht, leise noch, es bewegt sich kaum, wie in einer Badewanne, fast zähflüssig, die Wellen werden erst später kommen, zusammen mit dem Wind, und da hört man einen Motor, schon von weitem, und als er immer näher kommt, hört man, wie sein Jaulen, von den Felsen des Berges reflektiert, gefolgt vom Kreischen der Reifen, die scheinbar endlos lange blockiert über den Asphalt schleifen, zu einem klopfenden Brummen abstirbt: Sie sind da, einen zu holen.

Die vor einigen Augenblicken noch gefühlte Leichtigkeit fällt von einem ab, wie von einer heftigen Ohrfeige aus einem heraus geklatscht, und die Müdigkeit erdrückt einen schlagartig; vornüber kippen könnte man und würde es auch, schlösse man die Augen, die kleinste Bewegung, und es wäre vollbracht. Doch da ist kein Vogel in Sicht, also steht man auf, ächzend wie ein alter Mann, man sieht sie aus ihrem Polizeiauto steigen, den einen in Zivil und den anderen in Uniform, der sofort nach seiner Waffe greift, sie aber nicht aus dem Holster zieht, was einen wundert, der amerikanischen Filme und des Pejote wegen vermutlich.

Sie suchen wohl nach einem, sagt man und der Zivile antwortet mit „Ja!“ und fragt, wie es einem gehe und man sagt, so làlà, man habe ein paar anstrengende Nächte hinter sich und er nickt nur. „Die Waffe“, sagt der Uniformierte zum Zivilen und der ignoriert ihn und sagt, man solle sich keine Sorgen machen, es sei alles in Ordnung, was man nickend bestätigt und sagt: „Klar, alles in Ordnung.“ Aber man weiß, dass das nicht stimmt und wirft einen Blick auf die Insel, die jetzt weiter weg zu sein scheint, als während des Sonnenaufgangs, und es wird einem mit der erschreckenden Deutlichkeit klar, die einen beim Gang zum Schafott erfassen muss, dass man bis zum Hals in der Scheiße steckt und wirklich rein gar nichts in Ordnung ist: Man wird jetzt schnurstracks ins Gefängnis wandern, vielleicht nicht für ewig, vielleicht jedoch für etwas länger, denn es ist Krieg und Richter haben im Krieg vermutlich auch leicht verschobene Richtlinien und verschrobenere Launen als zu Friedenszeiten und man fragt sich, wie man aus dieser Situation noch rauskommen kann, ohne jemanden ernsthaft zu verletzen. Man hat nur noch eine Patrone, aber das wissen die Polizisten nicht.

 

Der in Zivil nähert sich langsamen Schrittes, während der Uniformierte in der Nähe des Wagens bleibt, die Hand unentwegt an der Waffe, und man sagt zum Zivilen, die Waffe habe man ins Meer geworfen, da runter, und man zeigt über die Klippen – etwas Besseres kommt einem im Moment nicht in den Sinn. Er aber nickt nur, schon wieder.

„Alles in Ordnung, kein Problem, das besprechen wir nachher in aller Ruhe“, sagt er, und man geht auf ihn zu, nähert sich ihm bis auf zwei Meter und bleibt stehen, den Uniformierten immer noch konsequent ignorierend.

„Was jetzt?“ fragt man und er sagt, man werde jetzt zusammen zur Polizeistation fahren, nach Senj, wo man über alles reden und sehen werde, wie man die Angelegenheit am besten und schnellsten regeln könne. Man nickt langsam und sagt: „Okay, gehen wir!“ Und der Zivile macht die Allerwelts-Nach-Ihnen-Geste und man geht an ihm vorbei in Richtung Polizeifiat und Uniformiertem, immer darauf gefasst, dass sich der in Zivil von hinten auf einen wirft und versucht, einen zu Boden zu ringen, doch der hält Abstand und man weiss, als nächstes kommen die Handschellen, aber dann geht alles sehr schnell.

 

Später fragt man sich, wie lange es dauern wird, bis man gefasst wird. Es kann nicht sein, dass man zwei Polizeibeamte niedergeschlagen und mit ihren Handschellen an den Wagen gekettet hat, ohne dass sie dabei zu sich gekommen wären, und überhaupt: Es ist doch nicht möglich, dass das einfach so geklappt hat!

Auf der anderen Seite hat man den Kick nach hinten zum ersten Mal geübt, als man acht Jahre alt war, und ihn seither tausende Male wiederholt. Der Trick besteht darin, dass man weder Kopf noch Schultern dreht, sondern aus dem Schritt heraus nach hinten ausschlägt wie ein Pferd, und den Gegner mit der Ferse in die Magengrube trifft – Effekt garantiert: Der Getroffene sinkt zusammen wie ein Sack.

Beim Uniformierten dauert es ein wenig länger, bis man ihn am Boden hat, doch bei ihm ist es die Kraft des Verzweifelten, die einen antreibt und die schließlich genügt, ihm nach einem Tritt in die Hoden den Ellbogen so stark ins Genick zu rammen, dass auch bei ihm die Lichter ausgehen; man ist im Rausch und hat irgendwie Spaß daran, und als der Polizist in Zivil sich aufrappelt und zur Waffe greifen will, ist man schneller, und der Stiefel geht zu seinem Kopf, der nach hinten geworfen wird und den Körper mitreißt: Der Mann liegt am Boden und wird so schnell nicht wieder zu sich kommen.

Man nimmt alle drei Pistolen an sich, der Zivile trägt einen kleinen Revolver an der Wade, die Ersatzmagazine schnappt man sich auch, man steckt alles in die Jackentaschen und den Hosenbund, schleift die erschreckend schweren Körper zu den Autotüren, öffnet diese und lässt die Handschellen an den Griffen zuklappen. Man durchsucht die beiden nach Papieren und Schlüsseln und nimmt nur das Geld – man kann ja nie wissen.

Im Polizeiauto gibt es weiter nichts zu finden, also zertrümmert man das große Funkgerät, schnappt sich das kleine Walkie-Talkie des Uniformierten, rennt zum Wagen der Eltern, schlägt die hintere Scheibe auf der Beifahrerseite ein, zwängt sich hindurch und schnappt sich die Zündschlüssel. Kaum auf dem Fahrersitz gelandet, hat man schon den Motor gestartet, und bevor man sich’s versieht, das Gaspedal voll durchgedrückt; es wird ein Weilchen dauern, bis die beiden zu sich kommen. Dann werden sie merken, dass sie kein Funkgerät mehr haben und keine Schlüssel, weder für das Auto noch für die Handschellen, und weil ziemlich sicher keiner der beiden ein Houdini ist, wird mindestens eine halbe bis dreiviertel Stunde vergehen, bis sie vermisst werden, und zu dem Zeitpunkt wird man mindestens fünfzig Kilometer weit entfernt sein und irgendwo durch die Gegend kraxeln, aber dann, mein Lieber, dann brodelt’s: Sie werden einen suchen, mit Hunden und allem drum und dran, Scheißaussichten. Aber bis sie das alles organisiert und das Auto gefunden haben, wird man wortwörtlich über alle Berge sein, man wird klettern und rennen, bis einem die Lungen platzen, aber jetzt ist rasen angesagt, fahren wie der Henker.

Zu verlieren hat man nichts, denkt man beim Driften durch die Kurven, vielleicht ein paar Schläge bei der Festnahme, sofern man nicht an Ort und Stelle abgeknallt wird, was so schlimm auch nicht wäre, weil die Münzen für den Fährmann schon in der Ablage bereit liegen, also was zum Teufel soll’s.

 

Zehn Minuten und tausendachthundert Herzschläge später sagt die Autouhr acht. Man nimmt sich fest vor, spätestens um neun den Wagen stehen zu lassen. Bis dann muss man eine Stelle gefunden haben, einen Felsen, hinter dem man das Auto verstecken und sich bergauf davon machen kann, davon machen wie Spiderman, als man merkt, dass man kein Wasser zu trinken hat, und man nimmt eine Kurve noch haarsträubender, Wut, Hass, dann Panik, nein, nein, schön bleibenlassen, keine Panik; man wird schon was auftreiben, man hat immer was auftreiben können, wenn es sein musste.

Und so fährt man weiter, immer den Gedanken im Kopf, dass man beobachtet wird, von den eigenen Leuten oder vom Feind, dort oben auf den Bergen sitzen sie und zielen auf einen, die eigenen vielleicht mit Snipergewehren, der Feind vermutlich mit gröberem Kaliber, aber an den Gedanken an Minen, Granaten und Kugeln wird man sich jetzt wohl oder übel gewöhnen müssen, und bisher hat

 

man einfach nur Glück gehabt, ein Schweineglück sogar, und wer weiß, vielleicht haben es die Polizisten doch irgendwie geschafft, ihre Kollegen zu benachrichtigen. Aber da ist kein Wald in Sicht, kein Baum, kein Busch, kein Strauch.

Neun hat man sich gesagt und neun soll es sein, keine Minute länger, um neun muss man von der Strasse runter, raus aus dem Auto, nervös, sehr nervös, Angst vor der Küstenstraße, vor Leuten, die auf einen schießen könnten. Was soll’s, hol’s der Teufel: Man gibt Gas, die Profile greifen, Kurve um Kurve quietschen die Pneus, der Wagen bricht aus, Gegensteuern, niemand, kein Mensch weit und breit, nichts kommt einem entgegen, weder auf zwei noch auf vier Rädern, fünf vor neun, sagt die digitale Uhr am Armaturenbrett – wie weit kommt man in fünf Minuten, wenn man hundert fährt? – acht und ein paar zerquetschte Kilometer, so der ungefähre Überschlag, das ist weit, weit genug, um eine der Strassenausbuchtungen, einen dieser Panoramagenieß- und Pinkelplätze neben dem Asphalt zu erreichen. Die Uhr gibt das Tempo vor, das sich steigert, bis man eine Leitplanke touchiert, leicht nur und mit der hinteren Stoßstange aus Plastik, was aber Zeichen genug ist, um zu drosseln, ein wenig nur, und so schnell wie die Kolben im Motor hämmert das Herz und pocht gegen die Augenballen und da ist Grün, weiter vorn, jetzt sieht man’s und jetzt nicht, Kurve links, Kurve rechts, nicht mehr weit ist es, da gehört er hin, der Kleine, Weiße, Treue, ein Kiesplatz ist es, Bäume, Bremsen, Schleudern, kurzes Bangen (bleib stehen, verdammt!) und der Baum wird geküsst, ganz sanft, vom Auto mit der Plastiklippe, und man stellt ihn ab, den guten Motor und tätschelt dankbar das Lenkrad.

 

Der Zettel liegt auf dem Boden vor dem Beifahrersitz, die Nachricht an den Finder mit der Nummer der Besitzer, und man hebt ihn auf und legt ihn liebevoll auf den Sitz, steigt aus, lieber Wagen, guter Wagen, der Schlussstrich nun definitiv: Knopf runter, Türgriff hoch und die Tür trotz kaputtem hinteren Fenster abgeschlossen zugeschlagen, Schlüssel unterm Vordersitz. Zahlt die Versicherung eigentlich, wenn es der eigene Sohn ist, der die Karre geklaut hat? Egal.

 

Ein Blick übers Dach aufs Meer, ein Blick zum Berg, dann nichts wie über die Straße und mit wilden Sprüngen über Stock und Stein, ein Ziegen-, ein Widderbock, rauf auf den Berg.

Ein paar Zigaretten hat man noch, also setzt man sich nach gut einer Stunde ununterbrochenen Kraxelns, Abrutschens, Fluchens, Knieaufschlagens und Umgnadeflehens mit zitternden Händen und zuckenden Beinen hin. Feuerzeugrausklauben, Zigaretteanzünden – schwieriges Unterfangen, dann ein Zug, ach, wie wunderbar, ach, wie leicht die Seele, sieh, was ist das Meer schön! Moment - Meer? Inseln? Küstenstraße? Verfolger...

Wo ist die gummigetränkte, rutschige, Magistrale genannte Asphaltschlangenlinie, auf der sie kommen werden? Man steht auf, hält die Hand über die Augen, und da ist sie, die Straße, weit rechts ein Stück und noch ein ganzes Stück weiter links, zwischen weißen Felsen ein paar Meter mit der gelben Linie in der Mitte, Überholen verboten. Man richtet den Blick abwechselnd nach links und rechts, fixiert die Straßenabschnitte und raucht und kommt langsam wieder zu Atem. Wo die Polizisten nur bleiben? Die müssten doch schon längst wieder zurück in Senj sein und einem mit Verstärkung auf den Hacken.

 

Lassen sie einen laufen? Nein. Kann nicht sein. Die zugefügte Erniedrigung ist viel zu groß, ein Spezialkommando wird organisiert werden, um den Dieb, Schläger und potentiellen Verräter zu töten, den Spion; nach der letzten Aktion wird wohl kaum jemand daran zweifeln, dass der Polizist, der einen letzte Nacht als Vaterlandsfeind bezichtigt hat, Recht hatte, jetzt, da man sich der Staatsmacht widersetzt und vier Pistolen und gegen hundert Schuss in Jacke und Hosen stecken hat, ganz zu schweigen vom Funkgerät, mit dem man ihre Frequenz..., Funkgerät?! Man hat nie eines bedient, geschweige denn besessen, man schaut es sich an, wie ein Dreijähriger eine Bang & Olufson-Anlage, und wie ein Dreijähriger beginnt man, auf gut Glück auf Knöpfe zu drücken und an Reglern herumzudrehen; on und off ist schnell kapiert, aber wie funktioniert der Rest? „Threshold“, steht da undeutlich, von hunderten Fingern abgenutzt, rauf und runter gedreht und plötzlich rauscht’s, Digitalanzeige sagt 10 – auf welcher Frequenz wohl die Polizei...?

Nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Das kann, das muss geortet werden können! Off! Ausgeschaltet, fallen gelassen wie ein Stück rot glühende Kohle und dann der Absatz des Stiefels und zur Sicherheit niedergekniet und mit einem Stein drüber, bis Teilchen schwarzen und grünen Plastiks, farbiger Drähte und die halbierte Gummiantenne auf einen halben Quadratmeter verteilt sind: „Aufstehen, Kehrtum und Weiterklettern!“ sagt’s, schreit’s, also macht man das und irgendwann unterwegs schaltet das Gehirn aus, Zellen und Synapsen auf Quadratmeilen verteilt, vegetatives Klettern und Laufen, unangestrengt konstant, Sichtfeld dreißig Grad Maximum, es vergehen Stunden, kein Durst, kein Schmerz, keine Ermüdung, Trance.

 

Die Steine haben die Farbe gewechselt, weiß wird zu weißorange, weißrot zu weißgrau-dunkelrot, warum, fragt man sich, es ist derselbe Berg, Hirnwindungen und Synapsen reaktivieren sich und sagen einem, dass die Sonne langsam untergeht, man könnte anhalten, sich umdrehen, Oberkörper nach vorn, die Hände auf den Oberschenkeln abstützen und den Kopf heben, und da ist es, das Meer, die Sonne, sie versinkt in ihrem eigenen flüssigen Gold, eine Viertelstunde noch, dann wird’s dunkel. Auch nicht gut.

Man sieht sich um, Steine, Felsen, spitz und scharf, nicht ein halber Meter ebener Boden, auf dem man sich zusammenkauern und die Nacht überdauern könnte, dein Mund, meldet sich die Zunge, dein Magen, schreien die Eingeweide, dein Knie, du Arsch, findet der linke Meniskus und der Kopf sagt überraschend ruhig: Setzen, Entspannen, Überlegen, und die Muskeln lassen nach, noch bevor man eingewilligt hat und Hintern und Steiß sind die Leidtragenden, die die spitzen Steine abbekommen, doch darum kümmert sich der Rest des Körpers nicht – klarer Mehrheitsentscheid.

Es dauert eine Weile, aber man kommt wieder zu sich. Und es sieht schlecht aus – ein paar Minuten noch und es wird stockfinster sein; war gestern nicht Vollmond? Man sucht den Himmel ab und da ist er tatsächlich, schwächlich noch, wie eine Glühbirne auf einem halben Watt, aber man kennt ihn, und man kennt seine Sonne, sie wird ihm den Strom liefern und er wird leuchten für einen, wie er es immer getan hat: Ich danke dir, mein Alter, danke. Man wird weiter gehen können, ohne sich dabei das Genick zu brechen.

 

Das wieder aufgestartete Gehirn produziert Gesichter, Stimmen, Gegenden und Gefühle, statt Trance jetzt ein fortwährender Traum, man versteht nichts, erkennt kaum etwas, taumelt durch den Sturm, bis man im Durcheinander der Töne, Klänge und Stimmen eine festmachen kann, und es ist die der Mutter, und sofort erscheint ihr Gesicht vor einem Mosaik verschiedener Bilder, dann das Gesicht des Vaters, und sie sind traurig, und Mutters Stimme zittert, und obwohl man sie nicht versteht, weiß man, was sie sagt, und das Herz zieht sich zusammen und saugt einem das Blut aus den Adern und man fleht sie an, sich keine Sorgen zu machen, alles ist gut und man ist am Leben, sagt man und versucht sogar zu erklären, wo man ist und weshalb, doch man schafft es nicht, denn die Gesichter von Mutter und Vater verschwinden im Strudel der Traumbilder, während man noch nach den richtigen Worten sucht und man schickt ihnen einen Gruß hinterher und ruft in das Chaos, dass man sie liebt, daraufhin ein Aufblitzen durch den Strudel an Bildern, ein, zwei Lächeln, die Eltern, die einen gehört haben, und man weiß, wie sehr sie einen lieben – pass bloß auf sie auf, lieber Gott, denkt man, pass auf die Eltern und die Brüder auf, und wie man das denkt, lösen sie sich auf und man steht vor einem steinernen Berghang in der Dämmerung und versucht, sich zu erinnern, wann das war und wo, irgendwann in der Kindheit muss es gewesen sein, und man blickt um sich und fühlt einen stechenden Schmerz im Hinterkopf und hört eine Stimme, die schreit Dummkopf, dann noch zwei, die schreien, pass doch auf, verdammt, und es sind die Hände und das linke Knie (dessen Stimme ein wenig lauter ist als die des rechten, seit man ihren Meniskus beim Fussball ruiniert hat), sie fluchen alle zusammen und plötzlich ist der Berghang ganz nah.

 

„Zeit für eine Pause“, denkt man und fragt sich, wie lange es noch dauern wird, bis man zusammenklappt, dehydriert, überanstrengt und ausgezehrt hinfällt und sich den Kopf aufschlägt, um für immer liegen zu bleiben – ruhig, ganz ruhig, mein lieber Freund; schau, wie weit unten das Meer ist, schau, wie flach der Hang, auf dem du gehst, da, sieh nur, da wachsen Grasbüschel durch die Steinritzen, na los, zieh den Handschuh aus, berühr’ sie, fühl sie, na, da hast du’s, noch ein Stückchen weiter und du gehst auf Moos, und da wird irgendwo Wasser sein und du wirst dich unter eine Quelle legen und trinken, so viel du willst, weiter, los, weiter!

„Weiter!“ jubelt das Herz in der Mondnacht und pumpt und pumpt und pumpt Blut, und man ist schon ganz schön weit oben und keine hundert Meter weiter vorn, da geht es nicht mehr aufwärts, sondern leicht abwärts, man ist oben, oben auf dem Kamm – Moment; wo ungefähr war noch mal der Frontverlauf, was hatten sie gesagt, die Soldaten, als sie sich für die Nachtpatrouille bereit machten? – und dann, in exakt diesem Augenblick, als hätte die Frage den die Hölle auslösenden Kriegsknopf gedrückt, grollendes Donnern, Stakkato-Peitschen, der dunkle Himmel in der Ferne wird durchbohrt von grünen, gelben und roten Pfeilen, schrilles Gebell von Maschinengewehren, schmetternde Explosionen, trommelfellzerreißendes Pfeifen in den Ohren, und der Körper antwortet vor dem Geist und wirft sich hin, man verschränkt die Arme über dem Kopf, und da dämmert’s und stottert’s: „Krieg!!!!“

Und man liegt mitten drin.

 

Banner_TDDL2011 (Bild: ORF)Banner_TDDL2011 (Bild: ORF)