Ralf Bönt, Berlin (D)

Ralf Bönt wurde 1963 in Lich geboren und lebt in Berlin. Der deutsche Autor wurde von Meike Feßmann zur Teilnahme am Bewerb vorgeschlagen.

 

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 Der Fotoeffekt      (Auszug aus der Novelle)

 

                                           für Ellen Miller

 

      Am Anfang war die Stille und die Erregung und die Frage, warum ein Eisberg nicht untergeht. Mich wundert es nicht, dass sie so lange gebraucht haben, um das Rätsel zu lösen, obwohl ich schon viel früher dachte, jetzt haben sie es gleich. Aber man irrt, solang man strebt, und wer wartet, strebt besonders skurril. Ich habe auch eine Zeit lang geglaubt, ich müsste das entscheidende Ereignis finden, um die ganze Geschichte gut zu erzählen, jenes Ereignis, das die Wende auf dem Weg zur Lösung gebracht hat, und dann in Kreisen oder Spiralen oder vielstimmig und widersprüchlich oder ohne jede Ordnung um dieses Ereignis herum erzählen. Aber ich konnte mich kaum für ein bestimmtes Ereignis entscheiden und noch weniger gegen die anderen. Bis ich bemerkte, dass die Geschichte gar keine eindeutige Richtung hatte, sondern den ewig wechselnden Wünschen des Alltags unterworfen war. Wie alles, wie ich.

      Ich bin die Erregung.

      An einem dieser Tage, an denen alles anders hätte kommen können, sehr anders, war Hamburg mit einhunderttausend Einwohnern die größte deutsche Stadt. Manche zählten sie allerdings nicht zu den deutschen Städten, denn trotz Eisenbahn hatte sie weniger Verkehr mit Berlin und München als mit Amsterdam und dem mehrere Millionen Menschen beherbergenden London, das die größte Stadt der Welt war. Wenn es in London regnete und gleichzeitig im siebenhundertzwanzig Kilometer nordöstlich gelegenen Hamburg, kann man das Zufall nennen, obwohl es natürlich öfter vorkommt. Ich rede vom 22. Februar 1857. London hatte starken Wind, fast Sturm.

      In der Albemarle Street stand Sarah Faraday am Fenster und beobachtete, wie die Böen das Wasser vor sich her trieben, Muster und Rillen auf die Pfützen malten und wieder verwarfen, um es sofort neu zu versuchen. Das Fenster rüttelte im Rahmen. In sinnlosen Anläufen warf sich der Regen gegen die Scheibe. Michael Faraday saß am Kamin.

      Er starrte ins Feuer und fragte sich nicht mehr, wie Wasser bei Frost diese regelmäßigen Figuren auf das Fensterglas zaubern konnte, oder warum sehr kaltes Metall Brandwunden auf der Haut hinterließ. Das hatte ihn vor vierzig Jahren interessiert. Jetzt döste er, vielleicht rannte er hinter einer Idee her, die mal wieder schneller und flüchtiger war als er. Vielleicht versuchte er zu schlafen, und wenn er das tat, dann nicht bewusst. Angeblich musste er locker bleiben, musste abwarten, dass der Schlaf kam und ihn für zehn oder zwanzig Minuten holte. Und locker bleiben war nicht leicht.

      Faraday war zweiundsechzig. Mit dreizehn, als Licht oder zumindest englisches Licht noch aus Teilchen gemacht war, die von der Sonne ziemlich schnell und geradlinig angeflogen kamen, hatte er die Schule verlassen. Er trug hoch besteuerte Zeitungen von Abonnent zu Abonnent, durfte Buchbinder lernen und beim Binden die Bücher lesen. Immer hatte er von einem besseren Leben geträumt. Er glaubte, dass es besser würde, wenn man mehr von ihm wusste. Am Ende hatte er, ausgerechnet er und nicht die großen Gelehrten Europas, nicht Humboldt, nicht Ampère, nicht Volta und auch nicht sein großer Gönner Sir Humphry Davy aus Elektrizität und Magnetismus eins gemacht: den Elektromagnetismus.

      Und ihm war noch etwas viel Kühneres gelungen. Er hatte bewiesen, was niemand für möglich hielt: dass Licht magnetisch war. Daran hatte Faraday nie gezweifelt, im Gegenteil, er war sich sicher: Alles war eins.

      Nur er selbst war nicht eins. Ihm fehlte mehr als nur die letzte Verbindung, jene die auch mich befreit hätte, die Verbindung von Licht und Strom, und in der Hamburger Poststraße Nr. 20, die wie so oft im selben Tiefdruckgebiet lag, rang Heinrich Hertz im Kreis seiner Familie um Luft. Das war nichts Ungewöhnliches. Die Geburt überlebte nur jedes zweite Kind, von den Mütter starb jede fünfte, zehnte oder zwanzigste, genau wusste das niemand, ungenau aber jeder, auch Gustav Hertz.

      In Faradays Rücken stand Sarah am Fenster.

      Sie hatte gelernt, sich auf den Moment zu konzentrieren. Kinder und Hund hätte sie jetzt für eine Stunde in den Green Park schicken können. Den Kindern wären die Haare um die Ohren geflogen, sie hätten die Zungen ausgestreckt, um den Regen zu schmecken, ihre Stimmen wären beim Rufen des Hundes im Wind zerrissen, sein Bellen in vier Richtungen fort getragen worden. Beim Nachhausekommen hielte sie ein Handtuch bereit und trocknete ihnen an der Tür die Köpfe ab. Sie hätten ihre Schuhe ausgezogen, wären in die Küche gelärmt, auf dem Herd stünde eine Kartoffelsuppe mit Speck, deren Duft zusammen mit dem Lärm die Küche füllte. Täglich hörte Sarah ihre Stimmen, auch des nachts, Stimmen, immer.

      Sie sah zur kalten Küche hinüber und schlug den Blick nieder. Nicht nachdenken jetzt, forderte sie von sich, auch in der Disziplin war sie geübt. Am Morgen hatte Michael ohne zu Klagen sein Sodbrennen erwähnt, und wie matt er war, weshalb sie sich entschieden hatten, nicht zum Gottesdienst der Sandemanier zu gehen. Er fürchtete die beiden dreistündigen Predigten und das lange gemeinsame Mittagessen dazwischen, denn er konnte sich dort nirgends hinlegen und die Augen schließen. Zuhören konnte er sowieso nicht, in geschlossenen Räumen lag seine Konzentrationsspanne bei unter zwei Minuten. Trotzdem fehlten er und Sarah kaum je einmal, denn das führte immer zu einem schweigsamen Tag. Es machte deutlich, dass er die Zeit, obwohl sie gegen ihn arbeitete, nur noch verstreichen ließ.

      So wie Faraday jetzt im Sessel saß, hatte das Sodbrennen nicht nachgelassen, und selbst wenn, es blieb ihm der Kopfschmerz, der mal drückend, mal hämmernd war, mal eine glühende Klinge vom Atlas bis zum Augapfel. Es blieben die Zahnschmerzen und die Verstimmung, die in ihm wohnte, wie ein ehemaliger, schwarz gekleideter Freund, der einfach nicht ging. Die Reizbarkeit blieb, die er selbst am meisten hasste und über die er nie sprach, so wenig wie über die fehlenden Kinder. Der permanente Drehschwindel blieb, der von oben gesehen immer im Uhrzeigersinn ging und so stetig wie langsam sein Tempo steigerte, ohne jemals die Richtung zu ändern.

      Wann der Schwindel angefangen hatte, fragte Faraday sich manchmal. Vor zwanzig Jahren? Was waren zwanzig Jahre? Die Kinder wären ein Junge und ein Mädchen gewesen, mindestens, aber Sarahs einziges Kind war Michael, und sein Kind war das Wissen, und das Wissen hatte sich von ihm zu verabschieden begonnen.

      Es ging auf den Mittag zu. Der Arzt der Familie Hertz scherzte beim Eintreten und Abklopfen des vom Regen nassen Mantels, ob man nicht bis morgen hätte warten können, aber der Hausherr kam eben in dem Moment in die Halle, nickte seinem Diener dankend zu, damit er sich entfernte, und überging die Bemerkung des Doktors.

      „Bitte“, sagte Hertz trocken: „Hier entlang.“

      Der Arzt gehorchte.

      Ob die Hebamme da sei.

      „Natürlich.“

      Hertz war ein Mann mit breiter Stirn, hohen Wangenknochen und dunklen Augen. Mit sieben Jahren hatte man ihn zusammen mit seinen Eltern in der Leipziger Thomaskirche getauft und seinen Vornamen David Gustav in Gustav Ferdinand geändert. Anschließend hatte sein Vater für dreißig Mark das Hamburger Bürgerrecht erwerben können. Gustav Hertz hatte einen ruhigen, zielstrebigen Blick und war das Bestimmen gewöhnt. Er öffnete die Tür zum Zimmer seiner Frau Anna Elisabeth, die mit vom Schweiß nassem Haar froh war, den „Herrn Doktor“ zu sehen. Die Wehen, von denen Sarah Faraday bei keiner Konstellation des Himmels zu träumen aufgehört hatte, kamen bereits im Takt von weniger als zwei Minuten und nahmen Anna Hertz jedes Mal das Bewusstsein.

      Rein akustisch war der Doktor kaum zu verstehen, als er unter dem ausgiebigen Waschen der Hände etwas von „sehr spät“ vor sich hin sagte und sich erklären ließ, dass diese Situation schon eine Weile anhielt.

      „Wie lange?“

      „Dreiviertel Stunde.“ Die Amme wechselte einen Blick mit dem Arzt, der, nachdem er den Hausherrn gebeten hatte sich umzudrehen, und bevor er „Chloroform“ anordnete, den Geburtskanal inspizierte, dann aber zur Amme sagte: „Das mache ich, bereiten Sie die Zange vor.“

      Er forderte heißes Wasser und ein frisches Tuch, das niemand berühren dürfe.

      Anna Hertz krümmte sich erneut und gab nie gehörte Laute von sich. Eine Bedienstete brachte kochendes Wasser in einer Metallschale, die sie mit Handtüchern anfasste. Man tauchte die Zange hinein. Gustav Hertz verließ das Zimmer, ohne seine Frau noch einmal anzusehen, und rauchend ging er auf dem Flur auf und ab, bis er sich wegen der durch die Tür dringenden Geräusche entschloss, im Salon Platz zu nehmen und ins Feuer zu starren.

      Die nächsten zwei Stunden, in denen Faraday daran dachte, wie er einmal das Sonnenlicht, von dem im Moment nur sehr gestreute Reste durch die Wolkendecke und das wellige Fensterglas drang, im Prisma zerlegt und auf eine Kupferplatte geworfen hatte, dauerten eine Ewigkeit.

      Obwohl Faradays Gedächtnis nicht einfach nur schlecht war, sondern sich im Stadium der Auflösung befand, und er weder das Jahr und noch das Jahrzehnt hätte nennen können, wusste er genau, wie er damals das erste Mal aus Licht hatte Strom machen wollen. Er hatte auf dem erzwungenen stetigen Rückzug in eine immer kleiner werdende Welt seine Arbeit als Refugium gewählt, was auch sonst.

      Ich war damals, am 26. September 1828 gespannt wie nie in der jüngeren Geschichte des Universums, denn Faraday hatte die Kupferplatte mit einem einfachen Galvanometer verbunden. Es zeigte aber keine Reaktion. Auch nicht, als er die Platte in verdünnte Schwefelsäure tauchte oder das ganze Spektrum des Sonnenlichtes auf sie warf. Die Versuche, schrieb Faraday ins Laborbuch, seien sehr grob ausgeführt worden, und vielleicht hat er, während Heinrich Hertz im Geburtskanal um sein junges Leben kämpfte, in seiner zermürbenden Spannung erneut gehofft, eine rettende Eingebung zu erhalten. Vielleicht war er nah dran.

      Vielleicht auch nicht.

      „Wie es ans Herz greift“, bemerkte der Berliner Chemiker Alfred Stock erst in den 1920er Jahren in seinem Artikel über die Gefährlichkeit des Quecksilberdampfes, mit dem Faraday täglich gearbeitet hatte, „in den Briefen des großen Forschers zu lesen, dass er sich so oft zu seinem ärztlichen Freunde begeben und ihm klagen muss, dass er keinen Namen behält, dass er die Verbindung mit den Fachgenossen verliert, dass er seine eigenen Arbeiten und Notizen, seine Korrespondenz vergisst, nicht mehr weiß, wie die Worte geschrieben werden.“

      „Das betroffene Organ“, hatte Faraday irgendwann festgestellt, und er hätte jetzt nicht gewusst, wann das war, aber Stock zitierte ihn, „ist mein Kopf. Die Folge ist Gedächtnisverlust, Unklarheit und Schwindel." Stock wusste aus eigener Erfahrung, was Faraday meinte. Er nannte es Verdummung.

      Im Kamin knackte ein Holz. Faraday musste einen weiteren Schwall ätzende Magensäure die Speiseröhre herauf steigen lassen, bis fast in die von den ewigen Pilzinfektionen wunde Kehle. Zum Schlucken sah Sarah ihn lautlos die Lehnen seines Sessels umklammern, dann ließen die Hände wieder los.

      Was, fragte er sich benommen, hatte sein Arzt ihm bei Sodbrennen eigentlich geraten? Einen trockenen Toast, einen kleinen heißen Brandy und Wasser? Oder war das gegen die ewige flaue Übelkeit? Er bat Sarah um den Brandy, immerhin würde er die Schmerzen in Kiefer und Kopf verwaschen, als seien sie Spuren von Vogelkrallen oder Sandwürmern in den sanften Wellen am sommerlichen Strand von Dover, wo Sarah ihm damals nach langem Zögern ihr Jawort gegeben hatte.

      „Lass uns nach Brighton fahren“, hörte er sie plötzlich von hinten sagen: „Du brauchst frische Luft.“

      Sie hatte Recht. Auch er rang um Sauerstoff. Kaum eingeatmet nahm das Gift ihn sich in großen Mengen, und die Küste war seit langem sein einziges rettendes Ufer. Oft hatte er an der Seeluft entspannen können, hatte Ideen entwickelt, wie jene, die ihn schließlich zur Induktion führte: Einen Magneten in eine Drahtspule zu schieben ist kein simpler Einfall. Leider, muss ich sagen, hing Faraday ihm etwas zu sehr nach. 1845 zum Beispiel leitete er Sonnenstrahlen in einen zur Helix gedrehten Draht. Einmal hatte er hastig bei wolkenlosem Himmel probiert, einmal mit mehr Ruhe bei mäßigem Licht. Natürlich sah er keinen Effekt. Ein Jahr später besaß er ein verfeinertes Galvanometer. Noch mal ein Jahr später nahm er künstliches Licht, bündelte es, polarisierte es, stellte es abrupt an und aus, auch das hatte in anderen Fällen zu Auffälligkeiten geführt, aus denen er Hinweise las, die ihn auf ungeraden Wegen ans Ziel führten. Er schob ein schweres Glas in die Helix. Im Mai 1848 hatte er eine Silberplatte genommen, einen Platindraht, den er erhitzte: erfolglos. Tatsächlich entfernte er sich immer weiter von seinem Ziel. Nur beim ersten Versuch war er ganz nah am Fotoeffekt gewesen.

      „Morgen fahren wir“, bestimmte Sarah.

      Der Brandy war auf der Zunge angenehm, in der Mundhöhle und beim Schlucken. Er breitete seine Wärme in Kopf und Brustkorb aus. Erstaunlich, dachte Faraday, wie schnell der Alkohol das Hirn erreicht, und nachdem die beiden Worte Licht und Strom weggespült waren, hatte der Arzt „dem schon halbtoten Knaben“ Heinrich Hertz das Leben gerettet. Gustav Hertz wurde ins Zimmer seiner Frau gebeten, wo er sich seinen „verschrumpelt und chiffoniert auf die Welt gekommenen Sohn“ ansah und überfordert gleich wieder ging.

      Ich atmete durch.

      Schon am nächsten Tag wollte seine Mutter ihren „Heins aber lieb haben, mit ihm zusammen lernen und streben, denn er sollte ein großer und tüchtiger Mann werden und etwas bedeuten“. Dann sah sie aus dem Fenster in den Trubel der Straße. Da waren noch viele andere Mütter mit ihren Söhnen unterwegs, die zweifellos nichts anderes wünschten. Anna Hertz seufzte.

      Aber Heinrich Hertz wurde ein braver, ordentlicher Junge und brachte, wie es sich in seiner Umgebung gehörte, niemanden auf die Palme. Er war ein Bastler, Zeichner, Modellierer und Tischler, legte sich eine Drehbank zu und verbrachte jede mögliche Minute daran. Der Arzt war der Meinung, Heinrich solle Bildhauer werden. Ein Lehrer hielt ihn für einen Mathematiker, und als junger Mann ging er nach Frankfurt ins Praktikum für Bauingenieure, er ging nach Dresden, wo er einer schlagenden Verbindung beitrat, deren Mitglieder sich täglich Rotwein in die frischen Schmisse träufelten, um die Narben schön aufquellen zu lassen, und ließ sich von seinem Vater einen Brief schrieben, der ihm die Teilnahme verbot. Er legte den Brief nicht wie geplant vor, um wieder auszutreten, weil der Vater in einem zweiten gleichzeitig geschickten Brief ihm davon abriet.

      Heinrich ging zum Militärdienst nach Berlin und mochte an einem Tag die Disziplin, verabscheute an einem anderen den Befehlston. Er ging nach München, wo er Ingenieur werden wollte oder sollte, aber dann doch seine Liebe entdeckte. Nur riet ihm der Professor für Physik Philipp von Jolly vom Studium seines Faches ab.

      „Wieso?“, fragte Hertz erstaunt.

      „Die Theorie der Elektrodynamik“, sagte Philipp von Jolly froh, stolz und grinsend, wie er es zwei Jahre zuvor schon zu Max Planck gesagt hatte, „ist der Endpunkt der menschlichen Suche nach dem Naturgesetz.“

      „Wieso?“, fragte Hertz erstaunt.  

      „Was Maxwell nach Faradays Ideen geschaffen hat, das ist die Weltformel“, sagte Philipp von Jolly, „es gibt nichts mehr zu entdecken.“

      „Wieso?“, fragte Hertz erstaunt.

      „Seit dem Zusammenbruch der unsinnigen Theorie vom korpuskularen Licht“, war der Professor freundlicherweise bereit, dem jungen Mann aus dem Norden zu erklären, „sind wir am Ende der Naturforschung.“ Obwohl das Lichtteilchen natürlich keine schlechte Idee gewesen sei. Er sei aber froh, dass nun die Sonne doch keine Masse verlor und die Planetenbahnen folglich stabil blieben.

      Das will man nicht glauben, aber Ansichten sind halt eine Sache des Herzens. Menschen sind suggestibler als Pferde, und eine Mode beherrscht jede Zeit, ohne dass einer den Tyrannen auch nur zu sehen bekäme. Ohne jedes innere logische Problem zu empfinden, halten Menschen eine Gefängnismauer für einen Schutzwall, sie glauben, Eigeninteresse sei das beste fürs Gemeinwohl, und statt sich an den Kopf zu fassen, lauschen sie andächtig, wenn ein besonders einsamer und daher zur Buchhalterei neigender Mensch seine Tröte herausholt und auf ihr die Melodie spielt, nach der man über alles schweigen müsse, von dem man nicht sprechen könne. Das entrüstet natürlich. Nicht nur weil schon am Anfang genug Stille war und am Ende mehr Stille  ist, als man ertragen kann oder akzeptieren darf, ohne sein Gesicht zu verlieren, sondern weil man doch sowieso ausschließlich Rätseln seine Aufmerksamkeit schenkt. Über nichts anderes redet man. Man müht sich, die Moral hochzuhalten und beneidet die Zyniker. Man sucht sich an ein reines Herz zu hängen, auch ich tat das. Aber Heinrich Hertz war alles andere als ein Querkopf. Als Student, selbst später als Professor schrieb er noch jede Woche an „Mama und Papa“, lieh sich fortlaufend Geld und holte allerlei Erlaubnisse ein.

      Es sah verdammt schlecht aus.

      Aber ich hatte ihn unterschätzt. Ich verstand allmählich, dass seine nach Zustimmung fragenden Briefe an den Vater reine Drohungen waren. Heinrich Hertz studierte Physik. Er glaubte zwar zeitweise, es wäre besser gewesen früher gelebt zu haben, vor Mikroskop und Teleskop, als es „noch so viel Neues“ gab, nach dem Studium ging er aber wieder nach Berlin, wo er Hermann von Helmholtz assistierte und einsah, wie sehr Licht eine Welle, das Leben kurz und die Kunst lang war. Nur wie verdammt kurz speziell sein Leben und wie verdammt lang speziell seine Kunst sein würde, ahnte er nicht. Noch nicht.

      Er verliebte sich, in das Experimentieren. Vom Quecksilber war er nicht weniger fasziniert als die anderen. Es glänzte schön, auch im Halbdunkel des Labors. Es floss anders als sonst eine Flüssigkeit, denn wo normalerweise geflossen wird, bildet es Kugeln, die schnell und lustig wegrollen, obwohl man sie mit dem Finger zerdrücken kann, in kleinere Kugeln. Andere Metalle amalgamiert es zu den kuriosesten Viskositäten mit denen man die absurdesten Dinge tut. Und vor allem leitet es den Strom zuverlässig und willig um die abstrusesten Ecken. Das war das Geschäft der Stunde, und das Nervengift ist oft am Geschäft der Stunde beteiligt. Seine Gegner sagen, es sei der große, epische Trickser: Mit einer unbegreiflichen Disziplin bereit, dir jeden Wunsch zu erfüllen, mit einem Schuss unbewusster Genialität den naiven Helfer gebend und beim Töten ein Feinschmecker.

      Ich weiß nicht, ob ein erzählbares Leben immer eine Glanztat und einen zentralen Fehler benötigt. Faraday hat man zeitlebens auch nur Überarbeitung diagnostiziert und posthum Neurasthenie mit hysterischem Einschlag. Und Heinrich Hertz machte seinen Fehler angeblich 1881, als er sich dem Quecksilber selbst zuwandte. Einstein war zwei, Sarah Faraday, die ihren Mann um zwölf Jahre überlebt hatte, genau solange tot, als Hertz beliebige Mengen des Metalls verdampfte. Er maß die Temperaturverteilung in heißem Quecksilber, die Oberfläche war weitaus kühler als es im Innern der Flüssigkeit zuging, er stellte eine Gleichung für seine Dampfspannung auf, und ließ es farblos in die Nase steigen, von wo es unter anderem am Riechnerv entlang direkt ins Gehirn kroch, ohne dass es dabei den leisesten Hauch einer Meldung von sich gegeben hätte.

      Es dauerte nur ein Jahr, bis Magen und Darm rebellierten. Es dauerte ein Jahr, bis er, höflich wie er es gelernt hatte, von unbehaglichen Empfindungen sprach. Bis er früh um fünf aufwachte ohne wieder einschlafen zu können. Ich sage nur, denn bis zum Schwindel und Verlust von Gedächtnis und Konzentration kam Heinrich Hertz nicht. Dafür nimmt der Genießer sich angeblich zehn Jahre, inklusive der Phase, in der das Opfer sich dem Ignorieren und Leugnen hingibt. Zirka zehn Jahre. Das kann variieren. Sagen die Gegner.

      In diesem Jahr hätte Heinrich Hertz Leiter der zu installierenden elektrischen Beleuchtung Berlins werden können, wie Geheimrat von Helmholtz in irritierender Weise vorschlug. Die Hauptstadt hatte sich mal wieder selbst ausgerufen, diesmal als Elektropolis. Hertz zog es aber vor, Dozent in Kiel zu sein. Er zerlegte Begriffe wie Masse, Atom, Äther und Welle und schrieb epochal über sie, ohne zu publizieren. Er versuchte zu erklären, wieso man auf einer Eisplatte stehen konnte, ohne dass sie untergeht. Seine Erklärung war lächerlich: Die Platte biege sich durch und werde zum Boot. Er verzettelte sich in eine Liebschaft, die größte Gefahr für Geister, auf die man hofft. Er wurde Professor in Karlsruhe.

      Dort geriet er in Panik.

      „Wenn ich nicht übers Jahr verheiratet bin“, schrieb er seinen Eltern, „so werde ich in maßlose Wut geraten.“  

      Ein gleichaltriger Kollege wusste Abhilfe. Zehn Tage später verlobte sich Hertz mit der Tochter eines anderen, älteren Kollegen. Aber die Panik blieb. Er fasste sich noch am selben Abend an den Kopf, ging im Kreis, fasste sich ans Kinn, verzweifelte, löste die Verlobung nach drei Tagen wieder auf und verursachte damit einen Skandal in der Karlsruher Gesellschaft. Eine deftigere Herabwürdigung gab es für die Frau nicht und auch nicht für ihn selbst.

      In Briefen an die Eltern heulte er sich aus, und ich muss sagen, dass ich ihn aufgab, als er nach der letzten Vorlesung des Semesters in die Schweiz reiste, einen Berg bestieg, sich „aber nicht halten konnte“, und sofort nach Hamburg fuhr. Nach anderthalb Tagen Zugfahrt traf er in Hamburg Mutter und Schwester. Sie reisten gerade nach Helgoland ab. Er schloss sich an, litt aber „unter furchtbarer Unruhe und Aufregung“. Zurück nach Hamburg. Dort: „so schlecht wie möglich, Melancholie, Apathie.“ Er machte eine Kur in der für die Behandlung der Neurasthenie führenden Wasserheilanstalt und ließ sich vom nächsten Semester beurlauben. Dazu, ich zitiere: „Unsicherheit, Unglück, Menschenscheu, Missmut, Hoffnungslosigkeit, Trübsinn, Schande, Fluch.“

      Heinrich Hertz benötigte ein paar Jahre des Ekels vor sich selbst und der Welt, bis er eine neue Braut fand, und sein Leben noch einmal aufleuchtete. Obwohl noch immer jeder Sonnenstrahl gerade wie nichts anderes auf der Welt morgens in die Zimmer schoss und nur dann zu sehen war, wenn er auf einen Gegenstand wie zum Beispiel ein Staubkörnchen traf, das in der Luft tanzte, glaubte niemand mehr an das Photon. Das machte nichts, fand ich, denn bis kurz zuvor hatte niemand an Wellen in dem Bereich geglaubt, sondern nur an Teilchen, Jahrhunderte, nein Jahrtausende feierte nur eines: das Photon. Beim Schall sind immer nur Wellen protegiert worden. Uns Phononen hat nie jemand gedacht. Bis heute nimmt die Öffentlichkeit von uns keine Notiz, und das Photon wurde nach den paar schlechten Jahrzehnten gleich rehabilitiert: durch Albert Einstein. 1886, als die Firma Einstein das Oktoberfest elektrisch beleuchtete, hatte Heinrich Hertz zufällig gefunden, was Faraday vergeblich gesucht hatte: Wie man mittels Licht Strom herstellt. Hätte Faraday statt Schwefelsäure elektrische Spannung genommen, man hätte Planck, Hertz und Einstein sicher nicht von der Physik abgeraten. Die Geschichte wäre eine andere.

 

© Ralf Bönt

Der Autor dankt dem Hamburgischen Staatsarchiv.

 

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