Christiane Neudecker, Berlin (D)

Christiane Neudecker wurde 1974 in Nürnberg geboren und lebt in Berlin. Die deutsche Autorin wurde von Meike Feßmann zur Teilnahme am Bewerb vorgeschlagen.

 

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Videoporträt

 

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Wo viel Licht ist

für Frieder Weiss

 

Gleich ist es soweit. Ihr Schatten dehnt sich über den weißen Tanzboden, ihr linker Fuß klopft kurz an die Wade des rechten Standbeins, battement frappé, dann eine Drehung um die eigene Achse, das eng anliegende Kostüm verschärft die Konturen ihres Körpers auf meinem Monitor, ich schwitze, – warum schwitze ich - , meine Finger schweben über der Tastatur, über den Kombinationen, die ich gleich eingeben werde, f1, f2, enter. Im Kontrollfenster der Infrarotkamera sehe ich jetzt die Wirbel ihres oberen Rückens hervortreten, sehe, wie sie sich zum düsteren Notenlauf der Geigen nach vorne krümmt und sich dann mit einem Einatmen rückwärts durchbiegt, rechter Fuß auf Spitze, das Spielbein nach hinten gestreckt, der Arm als Gegengewicht, eine Arabesque, ihr Hals so lang. Eine kurze, gefrorene Pose, bevor sie ansetzen wird zum Sprung, zum Grand Jeté. Jetzt, zischt der Regisseur, der hinter mir steht, der mir in den Nacken atmet, jetzt!, als hätte ich den Rhythmuswechsel in der Musik nicht selbst gehört. Meine Hände zucken auf mein Keyboard, meine Finger fliegen über die Tasten, der Umriss der Tänzerin im Kontrollfeld meiner Software gehört mir. Ströme von Zahlenkombinationen laufen über den Monitor, ich entwerfe Algorithmen, schnell, schneller, ich greife mir ihren Schatten, ich manipuliere ihn, gebe die Befehle: analysieren, verzögern, f2, f3, enter. Stopp. Und mitten im Sprung, mitten im Luftspagat ihrer Beine, bleibt unter der Tänzerin ihr weit ausgespreizter Schatten einfach stehen. Noch im Flug dreht sie sich um, sie blickt abwärts, auf ihren erstarrten Schemen, ihr Gesicht ein Schreck. Dann fällt sie. Sie fällt. Ihr Sturz ist choreographiert, ich weiß das, wir alle wissen das, aber so sieht es nicht aus. Im Aufprall krachen ihre Beckenknochen gegen den Boden, das Geräusch ist dumpf, es zerschlägt das plötzliche Pianissimo der Musik. Die Tänzerin liegt jetzt auf dem hellen Tanzteppich, ihre Gliedmaßen verdreht, ihr ungläubiger Blick noch auf den Boden geheftet, als sich der Schatten plötzlich zu bewegen beginnt. Zum elektronischen Aufkreischen der Melodie reißt der Schatten die Beine noch ein bisschen höher, er regt sich, holt Schwung. Dann springt der Schatten ihr nach, er legt sich auf sie, über ihren unbewegten Körper, er dunkelt sie ein, sie schließt die Augen. Black. Irgendjemand im Probenraum keucht auf.

Drei Sekunden, sagt der Regisseur, als sie das Arbeitslicht einschalten. Bist du sicher, sage ich und fahre mit dem Mauszeiger über die Kolonnen aus Berechnungen, über das Muster aus Zahlen. Er schüttelt den Kopf.

 

Später stehe ich allein auf der leeren Bühne. Die anderen sind gegangen, genug für heute, enough for today, hatte der Regisseur gerufen. Um Mitternacht werden mich die Sicherheitskräfte aus dem Theater begleiten, die Regeln sind streng in diesem Land. Mir bleibt gerade mal eine Stunde Zeit zum Weiterarbeiten. Es ist kühl im Probenraum, die Klimaanlage ist zu kalt eingestellt, wie überall in den hoch aufschießenden Häusern dieser erhitzten Stadt, sie legen die Bewohner auf Eis. Ich reibe mir die Hände, dann breite ich die Arme aus und suche die Lichtquelle, prüfe den Winkel, in dem die Projektion auf den Boden fällt. Der Beamer ist passgenau eingerichtet, sein Bild überlappt exakt mit dem Beobachtungsfeld meiner Infrarotkamera. Meine Berechnungen sind korrekt, ich weiß das. Ich laufe ein paar Schritte, ahme die Schrittfolge der Tänzerin nach. Die Kamera schickt die Aufnahme meines Körpers an den Rechner. Meine Software reagiert sofort und wandelt mein Wärmebild in einen virtuellen Schatten, den der Projektor neben mir in Echtzeit auf den Tanzboden wirft.

Aber etwas stört mich. Es ist der Moment nach der Erstarrung. Der Augenblick, in dem ich den Schatten der Tänzerin angehalten habe, um ihn dann zeitverzögert hinter ihr herzuschicken. Ich bin mir nicht sicher über die Länge der Verzögerung. Drei Sekunden, denke ich, das kann so nicht sein, wir täuschen uns, das ist zu lang. Ich habe es gestoppt, immer wieder. Und habe etwas herausgefunden. Bei zwei Sekunden Verzögerung gehört der Schatten noch zur Tänzerin, der Zuschauer begreift ihn als Teil von ihr. Aber dann kippt etwas. Schon bei drei Sekunden empfindet man den Schatten als Verfolger. Irgendwo dazwischen also passiert die Abkopplung, irgendwann zwischen der zweiten und der dritten Sekunde.

Ich trete zurück an meinen Arbeitsplatz, beuge mich über den Rechner, kehre meinen Befehl um. Das Negativbild wird zum Positivbild, statt eines Schattens ziehe ich, wenn ich jetzt über die Spielfläche laufe, eine Lichtspur hinter mir her. Das reicht nicht, ist nicht das, wonach ich suche. Ich setze mich vor den Monitor. Weitere Programmierungen, weitere Clicks, ich verliere die Zeit – das unruhige Scharren des Sicherheitsmannes schon im Raum, jaja, I`m coming, I´m coming -, und die Spur zerstäubt zu Partikeln, zu kleinen Schwebeteilchen, die von mir wegfließen. Vielleicht ist es das, denke ich und blicke auf den Lichtstrom, den meine Schritte auf dem Boden auslösen. Vielleicht geht es um Auflösung, nicht um Ablösung, vielleicht müssen die Umrisse der Tänzerin zerfallen.

Als ich die Geräte ausschalte, das Licht lösche und die Tür des Probenraums hinter mir schließe, muss ich grinsen. Zu genau kann ich mir das Gesicht der Tänzerin vorstellen, ihren Blick, wenn ich ihr das sage: I think I need you to dissolve. Sie wird mich so ansehen, wie in dem Moment, in dem sie mich ihr vorgestellt haben. Das, haben sie ihr gesagt, als ich am ersten Probentag vor ihr stand, ist der Softwarekünstler aus Deutschland, an engineer of the arts. Er ist der Mann, der deinen Schatten stehlen wird.

 

In dieser Nacht kann ich nicht schlafen. Das wundert mich, ich bin schon seit zwei Wochen hier und war stolz darauf, keinen Jetlag zu haben. Womöglich ist es die Stadt, denke ich, als ich nackt an die breite Fensterfront meines Hotelzimmers trete. Hong Kong unter mir, vor mir, zusammengefügt aus blinkenden Pixeln. Das Flirren der Werbeflächen und Reklameschriften strahlt bis zu mir hinauf in den fünfundzwanzigsten Stock, das Flackern der LED-verkleideten Hochhausfassaden, das spasmische Zucken der Neonröhren hinter den endlosen Schaufensterketten unten auf den Strassen von Kowloon.

Wenn ich mich ein wenig zur Seite drehe, kann ich das benachbarte Hochhaus sehen. Steil steigt es über mir in den Nachthimmel, es stapelt Wohnung über Wohnung, Fenster auf Fenster, zappelnde Fernsehbilder über funzelnde Glühbirnen, es nimmt kein Ende, niemand scheint zu schlafen, immer schaltet gerade jemand eine Beleuchtung an oder aus, betritt jemand ein Zimmer oder verlässt es, sucht einer die Finsternis. Dass sie hier Licht als Baustoff nutzen, denke ich, als ich mich abwende und mich wieder auf das Bett fallen lasse, sie bilden eine reine Lichtarchitektur. Im Dunkeln würde diese Stadt aufhören zu sein.

Auf dem Nachttisch schweigt mein deutsches Mobiltelefon. Ich müsste es ausschalten, müsste die örtliche Sim-Karte einlegen, die mir das Theater gegeben hat. Ich sollte nicht mehr auf Nachrichten aus Deutschland warten, die nicht kommen. Vor sechs Tagen hat sie mir zum letzten Mal geschrieben. Grüße aus der Gruft, schrieb sie. Und: ich melde mich, sobald es mir besser geht, verzeih. Seitdem antwortet sie nicht. Sie geht nicht ans Telefon, sie verweigert sich, sie schweigt. Am Tag vor meinem Abflug wollte sie zu mir kommen, sie wollte so sehr. Wann kannst du hier sein, hatte ich ihr zurück geschrieben, ich freu mich, ich hol dich ab. Aber der Tag verging, der Nachmittag, der frühe Abend, nichts kam von ihr, und auf meinem Monitor, auf der website der Deutschen Bahn, gab es immer weniger Züge, die sie noch hätte nehmen können. Als ich sie schließlich auf ihrem Festnetz anrief, hob sie nach dem siebten Klingeln ab und meldete sich nicht. Sie atmete in den Hörer – dieses Geräusch, zwei, drei Atemzüge, so tief, so langsam –, sie sagte nichts, sagte einfach nichts, gar nichts, und dann, bevor ich reagieren konnte, bevor ich sagen konnte: ich bin es, was ist mit dir, sprich doch, sprich mit mir, legte sie auf. Ich hielt den Hörer in der Hand, starrte darauf, auf die poröse Plastikverschalung, hörte das Knistern in der Leitung, den anspringenden Besetztton, und konnte mich plötzlich kaum noch rühren.

Jetzt lehne ich mich zum Nachttisch, fahre mit dem Finger über den Ausschaltknopf, sehe das Aufblinken im Display, lausche auf die Melodie, mit der sich mein Telefon abschaltet. Ich weiß nicht, was los ist, was ich tun soll, wogegen ich antrete. Ihr Schweigen ist eine Mauer. Von dort aus stürzt sie, sie stürzt von mir weg und ich kann sie nicht halten.

Dass ich aufhören muss mit den Schatten, denke ich und drücke, um das Flimmern und Blinken vor dem Fenster loszuwerden, mein Gesicht in das Kissen. Immer diese Schatten, ob virtuell, ob echt, das kann nicht gesund sein, für niemanden. Aber dann, kurz bevor mein Bewusstsein absinkt, bevor ich verschwimme, denke ich: im Gegenteil. Ich muss mich beobachten. Meinen eigenen Schatten. Dort liegen die Antworten. Zwischen der zweiten und der dritten Sekunde.

 

Die Tänzerin steht in einem Strudel aus Farben. Sie bewegt sich nicht, hat den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Ihre Arme sind neben ihrem schmalen Körper erschlafft. Bässe wummern aus den Lautsprechern, mein Projektor gibt Videobild aus, die Animation eines kantonesischen Künstlers, sich verquirlende, quietschbunte Lackfarben. Der Regisseur wollte das so, es sieht albern aus, retro, eine sinnlose Spielerei. Es passt nicht in unsere Konzeption, in unsere Ästhetik, wir wollten uns auf den Schatten und die Tänzerin konzentrieren, auf die Momente der Trennung, der Wiederfindung. Aber ich sage nichts. Stattdessen betrachte ich den Schatten meiner Hände auf der Tastatur.

Wenn ich die Finger ausspreize, mischt sich der Umriss meiner Hand mit der Spiegelung auf den abgegriffensten meiner Tasten, dort, wo die Oberfläche unter den Buchstaben von meinen vielen Berührungen ganz blank gewetzt ist. Der Schatten selbst ist nur auf dem Touchpad richtig zu sehen, aber auch dort wirkt er unscharf, die Lichtausläufer meines Monitors sind zu diffus.

Vielleicht müssen wir mehr Lichtquellen in die Inszenierung einbeziehen, denke ich und bewege die Hand in der Luft langsam hin und her. Vielleicht ist es das, was uns fehlt. Wir sollten heller werden, brauchen eine Lichtbrechung, ein Prisma.

Once more, ruft der Regisseur in die plötzliche Stille hinein, noch mal, come on, was ist denn los. Seine Stimme klingt ungeduldig, er muss es schon mehrfach gesagt haben. Ich fahre zusammen. Den Blick noch auf meinen Schatten geheftet, springe ich auf, um das Video am Videorechner neu einzustarten. Und da sehe ich es. Ich sehe es im Aufspringen, sehe es, während mein Körper sich schon über die Maus des Videorechners beugt, während meine Augen noch immer meiner Tastatur zugewandt sind. Ich sehe es genau. Und erstarre mitten in der Bewegung.

Dort, auf der Bruchkante zwischen dem Touchpad und der Tastatur meines Rechners, liegt noch immer der Schatten meiner Hand. Zögernd bewegt er sich hin und her, streicht über die Anordnung der Buchstaben, hält dann plötzlich inne, stockt, und schnellt jetzt mit einem kleinen Schlenker, einer Rückbewegung, auf mich zu.  

What is it, brüllt der Regisseur, seine Stimme noch lauter, noch gepresster, once more, once more! Ich will nicken, will einen Arm heben, zur Beschwichtigung – warum bewege ich mich nicht -, coming!, will ich rufen, aber meine Stimme ist ein Krächzen. Es gelingt mir gerade noch, den Blick zu heben. Ich sehe auf die Bühne, sehe das Gesicht der Tänzerin, die sich mir schweigend zugedreht hat, ihren Kopf seitwärts geneigt, fragend. Muss man denn alles hier alleine machen, faucht der Regisseur auf Deutsch. An seiner Schläfe pulst eine hervortretende Vene. Ich lehne mich vor, drücke endlich auf replay.

 

Draußen, auf dem Vorplatz des Theaters, blendet mich die Sonne. Dass ich mal kurz an die frische Luft müsse, habe ich der Assistentin zugeflüstert, I need some fresh air, und, mit Blick auf den Rücken des Regisseurs, der auf seinen Stuhl zurückgesunken ist: tell him.

Der Platz vor mir ist leer, eine weiße, gleißende Fläche, mit geduckten, zurecht geschorenen Bäumchen am Rand. Die Schwere der Mittagshitze staucht alles in die Tiefe, selbst die Hochhäuser sehen im Sonnenschein niedriger aus als in der Nacht. Vorne, an der Straße zur U-Bahn, zieht langsam eine alte Frau vorüber. Sie hält eine aufgefaltete Zeitung über ihren Kopf und bückt sich dabei fast bis zum Boden.

Ich sehe nicht abwärts, drehe mich nicht um. Ich will meinen Schatten nicht anstarren, nicht hier, wo mich von der Galerie des Theaters aus alle beobachten können. Stattdessen biege ich in die Straßenschluchten ein, die landeinwärts zum Kowloon Park führen.

Ich betrete den Park von der Südseite her. Auch hier, unter den ledrigen Blättern der Banyanbäume, kühlt die Luft nicht ab, viele der Spaziergänger tragen Schirme aus bunten Stoffen über die Asphaltwege. Eine schwitzende Braut eilt mit gerafftem Brautkleid an mir vorüber. Unter dem Dachschutz des Pavillons setze ich mich auf eine Steinbank. Neben mir kauern ein paar alte Männer und spielen Mah-Jongg. Das leise Klackern ihrer Spielsteine vermischt sich mit dem Zwitschern der Vögel aus den gegenüberliegenden Volieren. Ich stütze den Kopf in die Hände, schließe die Augen.

Es kann nicht sein. Ich muss mich getäuscht haben, kann nicht gesehen haben, was ich da sah. Ich bin erschöpft, übermüdet, es ging in den letzten Wochen alles zu schnell. Der Anruf des Regisseurs, die Vorbereitungen, der hektische Abflug. Die ersten Proben schon am Abend meiner Ankunft. Der wenige Schlaf der letzten Nacht. Mein stummes, stummes Telefon.

Ich ziehe das Handy aus der Hosentasche, schalte es ein. Zwei Anrufe, ein Journalist, der für ein Schweizer Tanzmagazin ein Interview führen will, die wütende Stimme des Regisseurs - nichts von ihr. In Deutschland ist es noch früh, zu früh, aber das ist mir egal, sie ist die einzige, mit der ich jetzt sprechen kann, der ich sage könnte: hör mal, du, hier stimmt etwas nicht. Ich wähle ihre Nummer, presse den Hörer ans Ohr, heb ab, bitte, heb doch endlich ab.

Früher hat sie nie das Telefon ausgeschaltet, auch nachts nicht, sie hat mir oft vor dem Schlafengehen geschrieben, meist weit nach Mitternacht, einen Kuss aus der Nacht, schrieb sie, oder: ich denk an dich. Jetzt ist alles still, so still.

Ich stehe auf. Über den Hochhaustürmen steht die Sonne fast im Zenit. Ohne mich umzusehen, gehe ich los, trete auf den sonnigen Weg hinaus, der mich zum Theater zurückführen wird.

In den tief liegenden Außenbecken des Schwimmbads ist niemand zu sehen, der Wasserspiegel liegt gläsern und unberührt. Alles ist ruhig, beinahe taub, auch in mir. Ich muss mich getäuscht haben vorhin, genau, so ist es: ich sollte mehr schlafen. Aber plötzlich, ich weiß nicht, warum – eine Ahnung, ein Gefühl - bleibe ich mitten in der Hitze stehen, zähle zwei Sekunden ab, einundzwanzig, zweiundzwanzig, und drehe mich ruckartig um.

Auf dem Pechboden hinter mir löst sich mein Schatten aus den Konturen des Pavillons. Er ist klein, zurecht geschrumpft durch die Mittagssonne, durch den steilen Fall ihrer Strahlen. Ein kompakter, dunkler Fleck, der über den Boden wischt. Er läuft auf mich zu.

 

Ich stehe. Starre auf den Asphalt, den Schatten, der unter meinen Körper schlüpft. Plötzlich ist mir kalt. Hinter mir ruft ein Kind nach seiner Mutter. Ich schüttle mich, sehe mich um. Die Männer im Pavillon blicken nicht von ihrem Spiel auf, ein Kantonese liest in einer Zeitschrift. Am Eingang zum Schwimmbad drängt sich eine Gruppe erschöpfter Touristen vor einem Colaautomaten. Niemand scheint etwas bemerkt zu haben, auch das Kind hängt an der Hand seiner Mutter und dreht sich nicht nach mir um.

Vorsichtig bewege ich meinen Fuß hin und her. Mein Schatten zieht sich mit der Bewegung über den Asphalt, vergrößert sich, verkleinert sich im Lichtwinkel zur Sonne, Standbein, Spielbein, alles wirkt jetzt normal, es gibt keine Verzögerung, zumindest kann ich - auch nach ein paar hastigen Schlenkern mit den Armen - keine erkennen.

Ich hebe den Blick über die Baumkronen am Parkrand hinweg, prüfe die Spiegelungen des Sonnenlichts in den Hochhäusern. Es muss eine vernünftige Erklärung geben: Bewegungsillusionen, eine optische Täuschung, tanzende Reflexe von spiegelnden Glasfassaden, von sich öffnenden, sich schließenden Fenstern und Türen. Wäre mein Projektor über mir im Himmel installiert, hinge er im Zenit. Er würde die Sonne ersetzen, würde die Umfelder ausgrenzen und ich wüsste dann, womit ich es zu tun habe.

Aber so ist es nicht. Jetzt schon weiß ich nicht mehr, was ich da gerade gesehen habe, kann ich meinem eigenen Blick nicht mehr trauen. Ich sollte, denke ich, als ich mich zögernd in Bewegung setze, die Assistentin nach einem Augenarzt fragen, nach einem Spezialisten für Sehstörungen. Sicher könnte der mir sagen, woher sowas kommt. Fehlgedeutete visuelle Reize, flimmernde Nachbilder auf überanstrengten Netzhäuten -  wahrscheinlich kommt hier sowas öfter vor. In einer Stadt aus Licht, beschließe ich, sind Illusionen sicher nicht selten.

Zuerst laufe ich langsam, achte mit gesenktem Kopf auf jeden meiner Schritte. Mein Schatten bleibt unter mir, ist im Gleichklang mit meinem Rhythmus. Er schleppt nicht nach, bewegt sich nicht an der Grenze zur Ablösung, er hängt, das kann ich sehen, nicht zwischen der zweiten und dritten Sekunde. Eher scheint es mir auf einmal, als wäre er jetzt ein kleines bisschen schneller als ich.

Da reiße ich mich los, richte den Blick auf die Straße, die vielen, drängenden Passanten, auf meinen Weg. Ich muss zurück ins Theater, kann die anderen nicht im Stich lassen, muss an die Arbeit, meinen Rechner. Ich laufe jetzt zügig, aber mir wird einfach nicht warm.

 

Dass er den Moment der Ablösung noch einmal überprüfen möchte, sagt der Regisseur. Er steht mir gegenüber, doch er sieht mich nicht an. Sein Blick verfehlt meine Augen, wahrscheinlich ist er noch wütend wegen vorhin. Beim Eintreten in den Probenraum konnte ich das schon spüren. Etwas zog an mir, ich wollte draußen bleiben, wollte zurück ans Licht. Die Stimmung hier drin, die Finsternis im Raum, macht mich ganz schwächlich. Auf der Bühne glimmt das eingerichtete Videofeld des leise surrenden Projektors. Sonst ist alles dunkel. Ich werde meinen Arbeitsplatz näher an die Bühne rücken müssen, dichter an die erleuchtete Spielfläche.

Wir gehen zurück, sagt der Regisseur und greift neben mir in die Luft, zurück auf den Anfang. Ich verstehe seine Geste nicht. Diesen Luftgriff. Vielleicht wollte er mich gegen die Schulter boxen und hat nicht getroffen. Er könnte getrunken haben, während ich weg war. Bis zur Premiere sind es nur noch wenige Tage, wahrscheinlich ist er nervös.

Ich gehe vor dem Rechner in die Knie. Der Bildschirm ist im stand-by-Modus, ich aktiviere ihn, überprüfe die aufspringenden Felder meiner Software, schiebe mein Gesicht nah an den aufstrahlenden Monitor. Auf der Bühne dehnt die Tänzerin ihren Rücken. Sie kniet auf dem Boden, biegt sich weit nach hinten, bis ihr Scheitel den Tanzteppich berührt. Kurz überlege ich, ob ich es schaffe, online zu gehen, bevor wir beginnen. Es gibt, das weiß ich, ein leichtes W-Lan-Signal in diesem Raum, ein flatterndes Netz. Ich könnte nach optischen Täuschungen googlen, nach englisch sprechenden Augenärzten in Kowloon. Und noch etwas ist mir eingefallen. Ich werde mich melden. Nicht bei ihr, sie hebt ja nicht ab, sie will mir nicht sagen, was ist, das habe ich inzwischen begriffen. Aber es muss eine Verbindung geben, einen Umweg über die website ihres Galeristen. Mit ihm hat sie täglich Kontakt, sie vertraut ihm, das war so, seit ich sie kenne. Ich könnte diesen Galeristen aufspüren, ihn anrufen, ihm sagen, wie sehr ich mich sorge. Vielleicht fährt er dann zu ihr. Vielleicht lacht er mich aus.

Gerade will ich mir die Netzwerkverbindungen anzeigen lassen, will mich einloggen, schnell, aber da schaltet die Assistentin die Musik ein. Schon füllt der düstere Geigenlauf den Raum, schon balanciert die Tänzerin in der Arabesque, ihre lang gespannten Glieder bereit für den Absprung. Ich schließe die Anwendung, will mich konzentrieren. Aber etwas lenkt mich ab. Neben mir ist etwas. Eine Präsenz, ich kann es nicht deuten. Jemand ist bei mir, aber ich kann niemanden sehen. Jetzt!, flüstert der Regisseur von seinem Stuhl aus, aber ich ignoriere ihn, ich denke nicht mehr, bin im Inneren meiner Zahlengitter, gehorche meinem eigenen Rhythmus. Timing!, ruft der Regisseur und wird immer lauter, now! Now!

Ich weiß nicht, was es ist. Eine Dickflüssigkeit womöglich, die mich umgibt. Ja, so ließe es sich vielleicht beschreiben: alles ist zäh. Ich sehe, wie sich meine Finger über die Tasten heben. Aber sie hämmern nicht, sie hacken nicht auf die Buchstaben, auf die Zahlen ein. Stattdessen senken sie sich ab, sie schweben auf meine Kombinationen zu, so langsam, so ruhig, mit zwei Sekunden, drei Sekunden Verzögerung. 

Und da, kurz bevor die Assistentin an der Lichtkonsole den Black, die absolute Dunkelheit zwischen den Szenen aktiviert, verstehe ich es. Etwas hat sich verschoben. Nicht der Schatten ist es, der hinterher schleppt. Ich selbst bin es.

 

Um mich herum ist alles hell. Ich liege im Licht. Neben mir ragt eine LED-Fläche in den Nachthimmel, monochrom gleiten ihre Farben ineinander über, wechseln gerade von orange auf rot. Mein Kopf liegt auf der Gehsteigkante, Menschen strömen an mir vorbei, steigen über mich hinweg. Sie laufen, sie stöckeln, sie quellen in die Hochhaustürme an den Straßenrändern, drängen zu den verglasten Fußgängerüberwegen, in die aufwärts rasenden Aufzüge hinein, alle wollen sie höher, höher hinaus, in den zwanzigsten, den sechzigsten, den siebzigsten Stock.

Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin. Möglicherweise bin ich im Probenraum ohnmächtig geworden und sie haben mich nach draußen getragen. Aber warum haben sie mich dann hier abgelegt, vor einer Leuchtskulptur mitten auf dem Gehweg, irgendwo in Kowloon, das macht alles keinen Sinn.

Etwas stimmt nicht mit den Perspektiven. Ich zähle zwei Sekunden ab – warum tue ich das – und versuche, mich aufzurichten. Die Häuser schießen so hoch über mir in den Himmel, mir ist ganz schwindelig, es wirkt alles noch höher als sonst, eine ganze Stadt, die himmelwärts strebt.

Warum kann ich mich nicht erinnern. Irgendetwas muss geschehen sein bei dieser Probe, meine Finger, da war etwas mit meinen Fingern, aber es fällt mir einfach nicht ein. Jemand war da, jemand war neben mir, und er ist es auch jetzt noch, ich kann es spüren. Und dann diese Kälte, diese nicht nachlassende Eiseskälte in meinen Gliedern, während auf der anderen Straßenseite die digitale Anzeige einer Apotheke fast vierzig Grad anzeigt - das ist alles nicht zu erklären.

Auf dem Boden, am unteren Metallrand der LED-fläche, klemmt eine zerfledderte Ausgabe der South China Morning Post. Ich entdecke ein Wort, zerre an der Zeitung herum, bis ich sie in den Händen halte. Eine Gruppe grüner Aktivisten verklagt die Läden eines Markenlabels wegen Lichtverschmutzung, due to light pollution. Über fünfzig Beschwerden seien allein in den vergangenen Wochen auf Grund von Lichtbelästigung eingegangen, verkündet das Environmental Protection Department. Das Flirren und Flackern der immer lichtstärkeren Werbeflächen sei für viele nur schwer zu ertragen.

Es ist diese Stadt, denke ich und lasse die auf einmal so schwer gewordene Zeitung aus meinen Händen gleiten, dieses verdammte, gleißende Hong Kong. Ich hätte gar nicht herkommen dürfen, niemals. Wenn ich irgendwohin hätte fahren sollen, dann: zu ihr.

 

Das Flugzeug betrete ich hinter einem dicklichen, schnaufenden Chinesen. Ich bin so müde, lehne mich an ihn, aber er scheint es nicht zu bemerken. Einmal wischt er kurz über die Stelle, an der ich ihn berühre. Dass seine Hand durch mich hindurch fährt, müsste mich überraschen – müsste es doch – aber ich bleibe ganz ruhig.

Mir gehen Dinge verloren. Wo habe ich das Ticket gekauft, wann habe ich meinen Pass aus dem Hotelzimmer geholt. Habe ich den Regisseur noch von meiner Abreise verständigt, die Assistentin. Wo ist mein Rechner, mein Equipment. War ich noch im Probenraum, habe ich abgebaut. Ich weiß es nicht. Mein Bewusstsein hat - Blackouts, wenn man so will. Mit Licht hängt das tatsächlich zusammen. Ich kann Dunkelheit nicht mehr ertragen, beginne, mich darin zu verlieren.

Auf meinem Fensterplatz lehne ich mich gegen die Fensterscheibe. Ich will die Stadt sehen, wenn wir gleich abheben, ihren leuchtenden Umriss. Vielleicht sollte ich hier bleiben, ich fange schon an, mich an das Fluoreszieren und Strahlen zu gewöhnen. Aber ich habe darauf keinen Einfluss. Jemand hat entschieden, dass ich in diesem Flugzeug sitzen soll. Dass es besser ist, wenn ich gehe. Ich selbst war es nicht.

In der Hosentasche suche ich nach meinem Handy. Ich möchte ihr schreiben. Möchte sie wissen lassen, dass ich komme, dass bald alles anders werden wird. Aber als ich das Telefon aus der Tasche ziehe, ist es grau. Die Tastatur ist verschwunden, der Display tot. Alles überzogen von einem fahlen Schleier. Ich drehe das Gerät in den Händen, halte es an mein Ohr, klopfe darauf herum, schüttle es hin und her. Der Anblick erinnert mich an etwas, aber ich weiß nicht –

„Er hat doch bestimmt schon eine andere“, sagt jemand hinter mir auf Deutsch. Ich drehe mich um, sehe zwei junge Frauen. Die eine hat ihren Kopf gegen das Nackenkissen gelehnt und starrt an die Decke, ihr Blick so leer.

Wir fliegen nicht. Wir müssten längst abheben, zumindest glaube ich das. Ich verschätze mich jetzt auch in der Zeit. Warum fliegen wir nicht, frage ich den vorüberhuschenden Steward. Aber er hört mich nicht, beachtet mich gar nicht, blickt nicht einmal auf.

„Sir, why are we not taking off“, ruft die Freundin der Frau hinter ihm her. Der Steward hält inne, dreht sich um, kommt lächelnd zurück. Dass er die Verzögerung entschuldige, sagt er im perfekten Britisch. Einer der Passagiere sei wohl verloren gegangen, man müsse sich noch einen Moment gedulden. Und dann deutet er, mit einer kleinen Bewegung aus dem Handgelenk, auf meinen Platz.

Ich will protestieren, will etwas sagen, aber ich kann meine Stimme nicht hören. Ich fange an, mich zu winden, will auf mich aufmerksam machen, mich ihnen mit Gesten erklären, aber da dreht sich der Steward schon weg, da lehnt sich die Freundin schon wieder zurück, flüstert beruhigend auf ihre reglose Nachbarin ein. Und plötzlich ahne ich etwas, plötzlich beuge ich mich vor.

Am Ende des Ganges eilt der Steward einer Gestalt entgegen, die gerade um die Ecke biegt. Ich höre die Rufe, sehe die Geschäftigkeit, mit der sie ihm den Weg zu meinem Platz weisen, die Eile, mit der nun alles von statten geht, Sir, where have you been, wir haben nur noch auf Sie gewartet.

 

Ob er mich bemerkt hat, kann ich nicht sagen. Ich will glauben, dass ich in seinen, in meinen Augen etwas gesehen habe, ein kleines Aufflackern, als er auf mich herabblickt, als er die zusammengefaltete Flugzeugdecke unter mir hervorzieht und sich auf mich setzt.

Mein Schrei bleibt stumm. Nicht einmal ich selbst kann mich mehr hören. Und während wir uns langsam in Bewegung setzen, während das Flugzeug auf die Rollbahn zufährt, ahne ich, was gleich kommt. Ich ahne, was geschehen wird, wenn wir diese Stadt verlassen, diese Stadt und ihre Lichter. Wenn sie gleich die Bordbeleuchtung ausschalten. Ich werde -

 

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