Jens Petersen, Zürich (CH)

Jens Petersen wurde 1976 in Pinneberg geboren und lebt in Zürich. Petersen wurde von Burkhard Spinnen zur Teilnahme am Bewerb vorgeschlagen.

 

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Videoporträt

 

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BIS DASS DER TOD

 

Auszug aus einem Roman

 

1

 

Alex hebt den Taschenspiegel und sieht sein Zerrbild, schabt sich die Zähne mit einem geschnitzten Buchenstab, reibt sich die Achseln, befeuchtet das Gesicht und rasiert sich dann mit der letzten Klinge aus dem klammen Jutesack. Er sieht in den Spiegel und wischt das Blut weg, richtet sich schließlich auf, hustet und lauscht dem Schwingen der Schleimfäden in seinen Bronchien. Die Luft riecht nach Winter. Er stemmt die Hände in sein pochendes Kreuz, betrachtet die Türme des Heizkraftwerks am anderen Ufer, das Schwemmgut im Schilf – hagere Äste, ein schneebedecktes Stück Schutt, einen gefrorenen Fischkadaver. Er hustet noch einmal und spuckt in den Fluss.

Drüben, im Schatten der Brückenpfosten, steht der Wohnwagen. Die anderen Camper sind lange fort, kommen im Frühjahr wieder oder nie, da manche von ihnen längst alt geworden sind. Seine Lippen zittern. Zwei Stunden noch bis Mittag, denkt er. Er hat den schmalen Pfad geschippt, das Tonnenfeuer gelöscht, erneut den kargen Busch gestutzt und schließlich das alte Benzin aus dem Aggregat in eine Wasserflasche gefüllt. Über den Himmel ziehen Wolken. Am Uferweg hockt ein Hund.

Nachts hat er von Nana geträumt. Sie trug ihr Leichenhemd. Ihr Körper war winzig und dürr, mit Händen wie rostige Harken, flach aufeinandergelegt und gebunden über der trockenen Brust. Sie lag auf der Bahre in einem Raum mit kaltem elektrischem Licht. Als Alex schließlich aufgewacht war, lag er mit surrendem Kopf wie im Fieber und wälzte sich zwischen den stinkenden Decken herum. Er tastete nach ihrem Körper, zupfte den Schlafsack zurecht, nahm ihre Hand und strich darüber.

Nana, flüsterte er.

Nun hockt er auf einem Findling am Ufer, kneift die Augen zusammen und horcht inmitten des eisigen Morgengrauens in sich hinein. Sie sind allein; die ersten Wanderer werden erst später kommen, bloß der zerzauste Hund streunt im Dickicht des Schilfs umher, uriniert an den Grenzpflock und humpelt schließlich Richtung Wald, tief geduckt, mit hängendem Schwanz, am Steiß eine schwarze Wunde.

Alex schaltet den Gaskocher ein, rührt Kaffee in das trübe Wasser und legt die Tabletten aus dem Dispenser auf den schmalen Tisch, zwei große gelbe, die bitter schmecken, dazu eine weiße mit Zuckerhülle und dem Schriftzug eines bankrotten Konzerns. Nana kauert auf der Matratze und lauscht mit offenem Mund einem Sinfoniekonzert im Radio. Alex kann sehen, wie sie mit den Lidern blinzelt, zweimal.

Meinst du, sagt er.

Noch ein Blinzeln.

Ist gut, sagt Alex. Moment.

Er bückt sich und nimmt eine der weißen Einwegspritzen aus dem Kühlschrank. In seinem Inneren zieht sich seit ein paar Tagen alles zusammen; nie hat er solche Krämpfe gehabt, nie war sein Kopf so leer und dabei so schwer, so erfüllt von Stechen, Ziepen und diesem Rumoren. Manchmal meint er, Stimmen zu hören. Dann wäre alles aus. Hörte er Stimmen, würde er keinen Schritt mehr weitergehen, aber es ist bloß eine Art Murmeln, und meistens verebbt es im Nichts.

Er presst die Kanüle auf die Spritze und schiebt sie dann beinah bis zum Anschlag in das Fläschchen mit dem Morphium. Das Zeug ist zu schwach, Nana zu schaden; es nimmt ihr nicht mal den Schmerz. Er zögert, geht dann die kurze Strecke vom Herd hinüber zum Bett, hört das Tappen seiner Füße auf dem Laminat. Manchmal sieht er sich, wie er linkisch versucht, einen Verschluss zu öffnen oder auf dem Boden verschüttete Tabletten zusammenkratzt. Wie er singt, etwas vorliest oder Nana die Hand hält; wie er sie stützt und mit ihr spricht, fast, als versuchte er, etwas mit seiner Spucke zu kitten, das in Abermillionen harter Teile zerborsten ist.

Nana kauert auf der Matratze und starrt an die nackte Wand. Sie klopft mit dem Zeigefinger gegen den Rahmen des alten Bettes, ein Metronom aus Adern und Sehnen, hautbespannt.

Hier ist Kaffee.

Ein schwaches Blinzeln.

Ich tu dir Zucker rein.

Er setzt sich auf den Rand der Matratze und betrachtet sie, wischt ihr schließlich mit dem Zipfel der Bettdecke über den Mund und legte ihr die Tabletten nacheinander auf die Zunge. Er beugt sich ein Stück vor und küsst ihre matten Augenlider. Sie blinzelt und schmatzt; er führt die schmutzige Tasse an ihre Lippen und sieht zu, wie ihr der Kaffee übers Kinn rinnt und auf der Decke fein verästelte Flecken hinterlässt. Die Musik spielt weiter; Mendelssohn-Bartholdy, denkt Alex. Früher mochte er Mendelssohn nicht. Heute ist er froh, dass Mendelssohn diese Leere füllt.

Draußen ist wieder der Hund.

Ein Blinzeln.

Ich glaube nicht, sagt er, dass er jemandem gehört. Ich glaube, der Hund ist allein.

Ein dreifaches Blinzeln.

Ist gut, sagt Alex. Wenn er irgendwann wiederkommt, holen wir ihn rein.

Auf dem Tisch steht noch der Teller von ihrem Geburtstag, Weißbrot mit geräuchertem Fisch und ein paar Blättern Kopfsalat. Alex will nichts mehr davon essen. Nana kann nicht. Für den Hund, denkt Alex; wenn er bloß nicht vergisst, den Teller später, bevor sie fahren, vor die Tür zu stellen. Er sieht einen Fleck auf der Wand und wischt mit seinem Ärmel drüber. Er rückt die Tassen im Schrank zurecht, putzt sich die Nase und nimmt schließlich das zerknüllte Geschenkpapier vom Tisch. Er hat ihr einen Ring geschenkt, wie immer in den vergangenen Jahren. Nana trägt dreizehn Ringe an einem Bindfaden um den Hals, da ihre Finger angeschwollen und entzündet sind. Alex hat Gitarre gespielt, eine Kerze angezündet, sich schließlich ans Schachbrett gesetzt und jeden Zug kommentiert; Nana hat ihm mit geöffnetem Mund dabei zugesehen. Später hat er ihr aus seinem Tagebuch vorgelesen und ihr mit einem warmen Handschuh Schulter und Rücken massiert.

Plötzlich Stille. Die Batterien des Radios sind leergelaufen. Alex sucht überall, spürt eine leise Panik in sich. Er sucht in den Schubladen, unter dem Bett und sogar im Abfalleimer. Schließlich nimmt er die Batterien aus dem gelben Plastikgehäuse, schüttelt sie und gewinnt dadurch ein paar Minuten. Eine Terz, eine Quint: Das Motiv fliegt an sein Ohr und durch ihn hindurch.

Dann sind sie draußen, zuerst hinterm Wagen, wo Alex Nana stützt, als sie hockt und kondensierten Atem ausstößt. Während sie warten, frieren sie. Alex beugt sich vor, sieht in das Erdloch und schaufelt mit der Fußspitze Schnee darüber. Ihr schmerzgeplagtes Gesicht, ihr dürres Hinterteil, die blau gefrorenen, langen Finger ... Er hätte ins Dorf fahren und in der Apotheke Paraffinöl kaufen sollen; er hatte den Kopf voll gehabt mit all den anderen Dingen.

Auf einem Fetzen Packpapier hat Alex sich notiert:

1. Kleider suchen, waschen.

Das hatte er am Vortag erledigt. Er war zum Fluss gegangen und hatte ihr altes Zeug mit einer Wurzelbürste geschrubbt. Das Aggregat war noch heiß genug, um den Stoff zu trocknen; nun trägt er sein Festtagshemd. Sie wird die Strickjacke tragen, die sie auf ihrer letzten Reise am Meer gefunden haben.

            2. Schuhe putzen.

Auch das hat er getan – Nanas braune Stiefel, verschrammt, zerlatscht, das Leder ausgebleicht.

3. Fenster vernageln.

Wozu bloß, denkt er nun. Was sie gesammelt haben, würde gestohlen werden oder zumindest zerwühlt von den Leuten, die ihre Nächte am Fluss verbringen, dort grillen und sich betrinken. Als ob ein paar Spanplatten einen von denen zurückhalten könnten ... zumindest seine Uhr hat er in ein Kuvert gesteckt und sie dem Tankwart an der Straße nach Engsiek geschenkt.

Er trägt sie ins Haus, setzt sie auf den Schemel und beginnt, ihr den BH, die Strickjacke und den Wollrock anzuziehen. Ihre Kniegelenke knacken. Einmal rutscht sie zur Seite; er hält sie gerade noch fest. Ihre Haut riecht nach feuchtem Humus und Gries. Der Geruch ist ihm so vertraut, dass er ihn vermisst – körperlich vermisst –, wenn er draußen ist, beim Einkaufen oder im Sommer beim Angeln. Zwischendurch steht er auf, entschuldigt sich für ein Kratzen seines Fingernagels auf ihrer Haut, und küsst ihre Lippen. Schließlich setzt er ihr die Brille behutsam auf die Nase.

Wie geht’s?

Ein Blinzeln.

Fahren wir los?

Draußen prüft er die Autoreifen und füllt einen Eimer voll Putzwasser in den Kühler. Er beugt sich über das kalte Metall, scheuert die Windschutzscheibe, fettet Gummierungen und schmiert das Schiebedach mit ein paar Tropfen Bohnerwachs. Dann beugt er sich über die Motorhaube und beginnt, Spuren der vergangenen Jahre aus dem stumpfen Lack zu polieren. Ein Habicht. Ein Stein, der auf der Straße zum Wald vom Himmel fiel. Er beißt die Lippen aufeinander, schrubbt und denkt an nichts. Die Sonne kommt durch die Wolken, zum ersten Mal seit Jahresbeginn. Er sieht hinüber zum Wohnwagen, auf dessen stumpfer Metallschale die Strahlen einen Fleck aus Licht zeichnen.

Sie fahren über die Autobahn. Die Helligkeit blendet sie; gleißendes Weiß, nur hier und da lugt unter dem Schnee gefrorene Erde hervor wie eine schmutzige Pocke. Strommasten am Horizont, in Totenstarre verfallen. Hinter den Hügeln nördlich des Kanals beginnt der Wald. Plötzlich Nieselregen wie damals, als sie sich getroffen haben; er setzt den Blinker, drückt das Bremspedal und biegt ab.

Er hat daran gedacht, zu fahren, bis er nicht mehr kann, vielleicht zum Öresund, und den Wagen auf einer Landstraße gegen einen Brückenpfosten zu lenken. Er hat darüber nachgedacht, ihr dieses Gift zu geben, Phenobarbital, irgendwo in einer düsteren Wohnung in Zürich. Sie aus einem Glas trinken zu lassen, während irgendein Fremder ihr mit regloser Miene gegenübersteht. Sie zuvor bittet, einen Zettel zu unterschreiben, dass sie es wirklich will. Dann hat er die Fotos gesehen: Wie Menschen die Augen verdrehen, wie ihre Glieder sich verkrampfen im letzten schweren Kampf. All die Sekunden, in denen man weiß, dass man tot ist und doch noch lebt, Zeit, in der man vermutlich denkt, vielleicht bereut und im Kopf das Echo seines Herzschlages hört.

Sie fahren nach Osten, Richtung See. Vor Engsiek liegt der Wald. An der B 76, bei den Äckern, steht die alte Mühle.

Halten wir an, sagt Alex und hält direkt am Straßenrand. Er kurbelt das Seitenfenster herunter, packt Nanas Mantel und dreht sie ein Stück auf dem Sitz, damit sie raussehen kann. Ihre Brille ist fettig. Er nimmt sie ab, putzt sie mit einem Papiertaschentuch und rückt sie Nana schließlich auf der Nase zurecht. Nana kneift die Augen zusammen und nickt, zumindest glaubt er das.

Die Mühle steht noch, aber der vordere Teil des Restaurants ist zusammengefallen wie luftgefüllter Blätterteig. Der Putz ist abgebröckelt, die Tür hängt schief in den Angeln, und an die Wand neben einem Fenster haben die Dorfjungen ihre Sprüche geschmiert, Verehrungen Hitlers und anderen Kram wie damals, in den Jahren, als Alex’ Eltern sich hier zum ersten Mal getroffen haben. Auch das war zur Winterzeit gewesen, die Äcker verwüstet und karg, das Mühlrad von Plünderern gestohlen, im ausgetrockneten Flussbett ein verhungerter Wolf. Sie hatten die Nächte auf dem Holzboden neben dem Mühlstein verbracht, in einem Fell, das mit dem Sarg seines Großvaters aus Kiew gekommen war.

Fahren wir weiter?

Ein Blinzeln.

Er setzt den Blinker und fährt.

Sie halten an einer Ampel, dann an einer Tankstelle, wo er aussteigt und eine Tafel Kaffeeschokolade kauft. Er bricht ein Stück ab, öffnete vorsichtig Nanas Mund und legt ihr die Schokolade auf die Zunge.

Was meinst du, sagt er.

Nana sagt nichts, aber Alex sieht an ihrem Blick, dass es ihr schmeckt.

Weißt du noch, sagt er, wie du in der Mühle gekocht hast?

Gedünsteter Rotkohl. Gesottenes Kalb. Puffer mit Waldbeeren. Glasierte Birnen. Entenbrust à la Orange. Forelle vom Westensee, der sie, als sie es noch konnte, mit einem Messer den Bauch aufschlitzte, um die blutigen Innereien herauszuziehen. Sie häufte die Innereien und kochte später Suppe daraus. Alex hatte sich davor insgeheim geekelt, war lieber hinausgegangen und hatte Kisten sortiert, den Hof gekehrt oder die matten Gläser poliert. Aber er hatte es nie lange ausgehalten, allein zu sein; jedes Mal war er gebückt in die Küche zurückgekehrt, hatte sich auf den Schemel gesetzt und Nana zugesehen. Ihre Hände, fleckig und glatt, mit Nägeln, die sie gefeilt und geschnitten und manchmal sogar lackiert hatte. Die Schürze. Das Dekolleté. Ihre Füße in weißen Sandalen. Diese Frau mit dem feinen Gesicht, nach Fisch stinkend, die Finger glänzend. Ein paar Mal war Alex plötzlich auf den Tisch geklettert, hatte ihre Schultern gepackt und sie auf den Mund geküsst; einmal hatten sie sich sogar zwischen den toten Fischen geliebt.

Er hält wieder am Straßenrand, atmet zweimal durch und steckt Nana noch ein Stück Kaffeeschokolade in den Mund. Er sieht, wie seine Hand zittert. Speichel rinnt von ihren Lippen. Er fängt den Speichel und reibt sich die Finger an der Hose trocken.

Ihre Zeit in der Mühle haben sie nie vergessen können, die tägliche Arbeit und ihr Beisammensein an den Abenden. Später gingen sie jeden Sonntag hin. Nana war schon schwach, aber die Schwelle zum Essraum war niedrig, und Nana wog nur vierzig Kilo. Jedes Mal hob Alex sie aus dem Sitz, trug sie wie eine Braut über die Schwelle und setzte sie auf einen Stuhl. Die Mühle war vom Nachbesitzer schon wieder verkauft worden; der Neue setzte ihnen Bratwurst und Coca Cola vor. Meist waren sie allein im Speiseraum; nur hin und wieder kam während der Ferien eine junge Familie vorbei. Sie brachten den Feldstecher von Alex’ Großvater mit, sahen den Rehen zu, die am Waldrand in der Dämmerung ästen.

Schmeckt, hatte Nana einmal gesagt und in die Wurst gebissen. Der Teufel kann kochen.

Einen Rollstuhl hatte sie niemals gewollt. Krücken schon, aber keinen Rollstuhl. Als sie nicht mehr gehen konnte, war Alex einmal im Winter in der Einfahrt zur Mühle ausgerutscht; er war nach hinten gefallen und hatte sich dabei den Steiß auf dem Kopfsteinpflaster geprellt. Nana lag auf seinem Bauch und hatte Alex durch ihre getönten Brillengläser erschrocken angesehen. Sie wartete, bis er wieder stand. Dann lachte sie laut. Tränen liefen ihr über die Wangen, sie ruderte mit dem Arm wie ein Pinguin, und sie lachte, und Alex lachte mit und versuchte, sie vom kalten Boden hochzukriegen. Der Koch, ein hagerer junger Bursche mit einem Ziegenbart, sah sie durchs Fenster und kam schließlich aus der Küche gelaufen; inzwischen waren die Tränen an Nanas Kinn zu Eis gefroren.

Alex biegt in den Waldweg ein und fährt nun langsamer. Seine Füße sind taub. Die Hände, der ganze Körper ist ohne Gefühl; er hört nichts und sieht nur den Weg vor ihnen, den glänzenden, matschigen Schnee. Es ist, als sei die Gabe der Menschen, mit der Welt in Kontakt zu treten, für immer von ihm gewichen. Die Lichtung, von Sonne beschienen. Er wechselt den Gang. Plötzlich ein Schatten am Fenster, ein Pfadfinder, dick, mit einer Schirmmütze und einem Wanderstock. Er grüßt Alex. Alex stutzt einen Moment und grüßt zurück. Zwei weitere Pfadfinder sitzen in Decken gehüllt am Rand der Lichtung auf einer Plane und telefonieren; sie haben im Dickicht ihr Zelt aufgeschlagen.

Alex hält und steigt aus. Sie sind überall; einer von ihnen sitzt sogar auf einem Baum und betrachtet die Weiden am Waldrand durch ein Fernrohr.

Guten Tag, sagt der Dicke mit der Mütze.

Guten Tag, sagt Alex.

Der dicke Junge sieht zum Wagen und nickt Nana zu.

Haben Sie sich verfranst?

Nein, sagt Alex. Wir sind öfters hier.

Wir auch, sagt der Dicke.

Na dann, sagt Alex.

Was wollen sie denn, sagt der Dicke.

Nichts, sagt Alex.

Brauchen sie Hilfe?

Nein danke, sagt Alex. Vielen Dank.

Was ist mit der Frau? Ist das ihre Frau?

Sie ist ziemlich krank.

Entschuldigung, sagt der Dicke.

Schon gut, sagt Alex.

Er kennt den Jungen; es ist der Sohn eines alten Sonderlings, der einst mit seinem Vater befreundet gewesen war. Vermutlich erinnert sich der Junge längst nicht mehr an ihn, denn es ist Jahre her, dass sie sich getroffen haben. Alex kommen die Bilder eines Festes in den Sinn, mit einem Riesenrad, Zuckerwatte und Zirkusnummern; ein Stand mit Fischbrötchen „frisch vom Mühlenfluss“ zu einer Zeit, als die Mühle noch seiner Mutter gehörte. Seine Mutter, wie sie den Fisch verkauft, zuerst akkurat, in Tracht, und Jahre später gebeugt, in der Hand eine Zigarette, das Haar wirr, die Augen schon morgens gerötet vom Alkohol.

Warum stirbt sie nicht wie die anderen, hatte seine Mutter geschrien. Tu sie in ein Heim, damit du dich um die Mühle kümmern kannst. Für sie zu leben, für einen Krüppel. Wir brauchen dich!

Sie hatte geweint und Alex’ Schultern mit den Händen umfasst.

Der Vater hatte daneben gesessen und zu Boden gestarrt.

Wir geben dir was, hatte er gesagt, damit sie ins Rebberg kann. Das ist nicht so schäbig. Du kannst doch unsere Zukunft nicht ruinieren!

Alex legt den Rückwärtsgang ein und wendet den Wagen. Der Dicke steht steif am Rand des Weges und salutiert. Für einen Moment überlegt Alex, zum Wohnwagen zu fahren; er spürt, wie ihm kalter Schweiß den Rücken hinunterrinnt.

Was ist?, sagt er. Was meinst du? Was sollen wir jetzt tun?

Er dreht den Rückspiegel zur Seite und sieht darin Nanas Gesicht, ausdruckslos, auf die Straße gerichtet. Sie fahren eine Weile dahin. Dann hält er wieder, diesmal an einem freien Feld. In der Ferne ein Bahndamm. Er wartet beinahe fünf Minuten ab; kein einziges Auto kommt. Er schließt die Augen, lauscht Nanas pfeifenden Atemstößen, dem Crescendo und Decrescendo. Er kurbelt das Schiebedach auf, versucht, Nana ein Stück Schokolade auf die Zunge zu legen, aber seine Hand zittert; er lässt die Packung fallen.

Sag was, sagt Alex. Bitte.

Nana starrt vor sich hin.

Er löst die Gurte, erst ihren, dann seinen; dann nimmt er ihren Schal ab und legt den Kopf in die warme Mulde unter ihrem Kinn. Er hört sie atmen, minutenlang. Er will für immer dort sein, an diesem Tag, der verregnet und dabei sonnig ist, will für immer so daliegen, auf ihrer schmalen Brust, sie halten und hören, wie sie atmet, und denken, was sie denkt.

Dann steigt er aus, geht zum Kofferraum, nimmt die Schachtel heraus und steckt die kalte Pistole in seine Jackentasche. Er setzt sich wieder in den Wagen und dreht das Schiebedach auf. Er streicht Nana über die Wange, legt den Schal über ihr Gesicht, hält die Mündung an ihren Hinterkopf und drückt ab.

            Sobald du abgedrückt hast, wirst du warten, dreißig Sekunden lang. Du wirst dich zwingen, hinzusehen. Das wird ein Problem sein: sie anzusehen. Du wirst hinsehen, und falls sie noch atmet und sich bewegt, ein zweites Mal abdrücken. Du hast über die Todeszeichen gelesen: Manche von ihnen stellen sich erst nach einer Stunde ein. So viel Zeit wirst du nicht haben. Du wirst ihren Puls fühlen, und falls ihre Augen geöffnet sind, wirst du sie schließen. Du wirst dich an ihren Körper drücken, so lange er noch warm ist. Dann wirst du dir den Lauf in die Mulde unter deinem Kinn setzen. Die freie Hand auf ihre Hand legen. Vielleicht in den Himmel sehen.

Alex starrt durch die Windschutzscheibe. Etwas fährt über den Bahndamm. Zuerst sieht er das Rot in sein Gesichtsfeld ziehen, dann formt sich vor seinem inneren Auge das Wort ZUG. Er dreht sich zu Nana, reißt ihr den Schal vom Kopf und stößt sie an, ruft ihren Namen, aber wo ihr Gesicht gewesen ist, sieht Alex nur einen Klumpen aus feuchtem Haar und geronnenem Blut. Er schreit; er klammert sich an sie, weint und schreit und schlägt mit den Knien und der Faust auf das Armaturenbrett. Die Pistole ist heruntergefallen; Alex bückt sich danach, bekommt sie aber nicht zu fassen. Ein Vakuum drückt ihm die Organe in der Brust zusammen; er schreit ihren Namen, bückte sich, reißt die Tür auf, kniet auf der gefrorenen Erde und durchsucht das Innere des Wagens nach der Pistole. Er beißt sich ein Loch in die Backenschleimhaut. Tastet schließlich den Griff.

Er steht auf, geht vom Wagen weg, bleibt einen Moment stehen. Er weiß nicht, wo er ist, welcher Tag es ist, und wie er heißt. Er versucht, sich wenigstens noch an seinen Namen zu erinnern, an eine Sache, die ihn mit der Welt, mit sich selbst verbindet.

Plötzlich kommt ihm der Satz in den Sinn: Dann wirst du dir den Lauf in die Mulde unter deinem Kinn setzen.

Er setzt den Lauf unter sein Kinn.

Zuerst in den Wagen, denkt er.

Er geht zum Wagen zurück, zieht die Tür auf und hievt sich hinein. Was er von Nana erkennt, ist blass, fast durchsichtig geworden. Er stupst sie vorsichtig an; ihre Hand fällt aus ihrem Schoß auf die Handbremse hinab, ein dumpfer Schlag. Er glaubt, sie atme. Er hält die Luft an und starrt an ihrer Brust vorbei auf einen fixen Punkt.

Vielleicht atmet sie.

Er muss Hilfe holen. Er sieht das Innere des Schädels, in dem das Blut zu einem schwarzen Klumpen geronnen ist. Er drückt sich in die Rückenlehne. Er atmet tief ein und setzt sich die Mündung der Pistole zwischen die Augenbrauen, an die Schläfe, steckt sie sich schließlich in den Mund. Wo liegt das Herz? In der Mitte, denkt er und setzt sich den Lauf auf die Brust. Du musst genau auf die Mitte zielen. Alex sitzt da, panisch. Er starrt auf den Bahndamm, auf das Feld davor, dessen braun gesprenkeltes Weiß zu einem Wirrwarr explodierender Farben geworden ist. Er weint und schreit, dann ist er still. Er zählt in sich hinein. Er horcht, hört seinen Herzschlag und lässt die Pistole sinken, steigt aus dem Wagen, bleibt erst stehen und beginnt dann zu gehen. Er geht eine Weile. Er denkt an nichts. Er kann an nichts mehr denken. Er marschiert auf den Bahndamm zu.

 

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