Bruno Preisendörfer, Berlin (D)

Bruno Preisendörfer wurde 1957 in Kleinostheim geboren und lebt in Berlin. Preisendörfer wurde von Ijoma Mangold zur Teilnahme am Bewerb vorgeschlagen.

 

Download des Textes
Word-Format (*.doc)
PDF-Format (*.pdf)

 

Info über den Autor
Videoporträt

 

TDDL_2009_banner_beige_0: descriptionTDDL_2009_banner_beige_0: description

    

Bruno Preisendörfer: Fifty Blues

 

1

 

Ein Clown grinste ihn an. Er sah ihm unentwegt in die Augen und verzog das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. Die Augen des Clowns waren blau wie der Planet, auf dem er seit ungefähr 50 Jahren lebte. Der Planet drehte sich, purzelte durch die Ewigkeit, drehte sich um sich selbst, drehte sich um die Sonne, sah blau aus und hatte weiße Flecken an den Polkappen, immer noch.

Wenn der liebe Gott genau hinsah, erkannte er die Umrisse der Kontinente, Gebirgszüge, die großen Ströme, Wüsten. Wenn er noch genauer hinsah, konnte er sogar die chinesische Mauer erkennen. Er hätte nicht gedacht, dass die Menschen einmal eine solche Mauer bauen würden, um sich vor anderen Menschen zu schützen. Die Mauer war so breit und so lang, dass der liebe Gott sie vom Weltraum aus sehen konnte, wenn er die Augen ein wenig zusammen kniff. Der liebe Gott war schon ziemlich alt, ungefähr 50 Milliarden Jahre. Als vor 50 Millionen oder 60 Millionen Jahren die Dinosaurier ausstarben, war der liebe Gott ungefähr 49,95 Milliarden Jahre alt gewesen, und schon ein wenig weitsichtig. Je weiter weg etwas war, desto besser konnte er es erkennen. Was ihm direkt vor der Nase lag, nahm er nur verschwommen wahr. Darin bestand die Lösung des Theodizeeproblems. So nennen Theologen die Frage: Wie lässt sich bei all dem Bösen in der Welt ein guter Schöpfer rechtfertigen? Die Theologen machten sich zu wenig Gedanken darüber, dass der liebe Gott ungefähr 50 Milliarden Jahre alt und ein bisschen weitsichtig geworden war. Deshalb konnte er die chinesische Mauer auf der Erde erkennen. Die Distanz war groß genug. Der liebe Gott hatte vergessen, dass die chinesische Mauer ihren Erbauern nichts genutzt hatte. Die Reitervölker, gegen die sie errichtet worden war, drangen trotzdem ins Land. Die Menschen hatten das auch vergessen. Es war schon zu lange her. Die Distanz war zu groß. Jetzt gingen sie auf der Mauer spazieren und drückten wie verrückt die Knöpfe an ihren Fotoapparaten und Filmkameras. Sie verewigten die Erinnerung, sagten die Menschen.

Der Clown grinste.

Gottes Geschöpfe hatten noch andere Sachen gebaut, die man vom Weltraum aus sehen konnte. Pyramiden. Staudämme. Hochhäuser. Die Pyramiden hatten den Leuten, die sie errichten ließen, auch nichts genutzt. Ihre mit Bändern umwickelten Leichname lagen in steinernen Kammern herum, über die ihre Untertanen Stein auf Stein häufen mussten. Sie waren trotzdem nicht auferstanden. Dem lieben Gott war das egal. Die meisten Menschen wiederum fanden das gerecht. Vor dem Tod sind alle gleich, sagten sie. Sie drückten sich ungenau aus. Was sie meinten war: Nach dem Tod sind alle gleich. Sie hätten es nicht ertragen, wenn nur Besitzer von Pyramiden oder Hochhäusern unsterblich gewesen wären: Wer mit 50 noch keine Pyramide oder ein Hochhaus hat, oder etwas in dieser Art, bleibt tot, nachdem er gestorben ist. Der liebe Gott lässt nur die auferstehen, die es geschafft haben. Die Menschen mochten sich das einfach nicht vorstellen. Aber genau so wäre es gewesen. Wenn überhaupt jemand hätte auferstehen können, dann die mit den Pyramiden und den Hochhäusern oder mit anderen großartigen Sachen, die man vom Weltraum aus sehen konnte.

Dem lieben Gott war das egal. Es war ihm auch egal gewesen, dass die Dinosaurier ausstarben, vor 50 oder 60 Millionen Jahren, als er selbst ungefähr 49,95 Milliarden Jahre alt gewesen war. Die Menschen glaubten, ein riesiger Komet sei auf die Erde gestürzt, ins Meer, und habe eine große Flut ausgelöst, in der viele Tiere und viele Saurier ertranken. Die restlichen Saurier gingen mit der Zeit am Klimawandel zugrunde, den der Komet ausgelöst hatte. Diese Theorie war genauso falsch wie die Meinung der Menschen über das Leben nach dem Tod. Die Saurier waren einfach vor Schwäche ausgestorben. Sie pflanzten sich nicht mehr fort. Die Sauriermännchen dachten immer nur an das eine: Fressen, Fressen, Fressen. Die Saurierweibchen auch. Es war ein Teufelskreis. Sie waren so schwer und unbeholfen, dass sie keine Lust mehr auf Sex hatten. Sie mochten es nicht, wenn bei der Liebe die Erde bebte. Also kümmerten sie sich lieber ums Fressen. Und wurden noch schwerer und unbeholfener. Also starben sie aus. Ein Teufelskreis. Dem lieben Gott war das egal.

Er konnte von der Erde auch nicht mehr erkennen als der Astronaut, der in der Raumstation sein Frühstück aus der Tube in den Mund drückte, dabei zum Fenster hinaus blickte und an seine Frau und seine Tochter dachte, die irgendwo da unten lebten. Die Frau fuhr mit einem Jeep auf dem blauen Ball herum und verkaufte Häuser. Die Kleine fuhr mit einem Dreirad auf dem blauen Ball herum und verdarb den frisch angesäten Vorgartenrasen, weil das mexikanische Hausmädchen nicht aufpasste. Das hätte den Astronauten geärgert, wenn er es hätte sehen können. Aber er konnte nur Pyramiden und Hochhäuser erkennen, und die chinesische Mauer. Der fünf Meter hohe Zaun zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko war vom Weltraum aus nicht sichtbar. Aber das war ihm egal.

Er stellte sich vor, wie die Kleine mit dem Dreirad, das dicke schwarze Plastikräder hatte, Narben in den Rasen fuhr. Das war dem Hausmädchen egal. Sie war mit den Gedanken bei ihrem kleinen Sohn in Mexiko, er war für sie so weit weg, als lebe sie auf einem anderen Planeten. 

Dem lieben Gott war der Rasen des Astronauten auch egal. Er war mit den Gedanken bei dem, was er als nächstes machen könnte, nach den Dinosauriern und den Menschen. Adam und Eva waren vor 50 oder 60 Tausend Jahren in einem afrikanischen Tal aufgebrochen, um sich über die ganze Erde zu verbreiten und sie sich untertan zu machen.

Der liebe Gott hielt eine Fernbedienung in der Hand und überlegte. Er konnte durch alle Zeiten zappen, durch die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Er konnte sich ansehen, wie die Pyramiden gebaut wurden. Gerade rutschte ein Arbeiter, der nicht aufgepasst hatte, zwischen zwei der hintereinander gelegten, geschälten Baumstämme, über die ein riesiger Steinblock gezogen wurde. Der Mann schrie, als sein Bein zerquetscht wurde. Die Aufseher neben der Rollstraße trieben die Schlepper an den Seilen mit Peitschenhieben an. Der Mann wurde nach und nach zwischen die Stämme gezogen und zermalmt. Das konnte sich der liebe Gott ansehen. Genau wie alles andere, was schon geschehen war und noch geschehen würde. Zum Beispiel, wie der Astronaut, der sich gerade sein Tubenfrühstück in den Mund drückte und dabei an seine Tochter auf der blauen Kartoffel da unten dachte, beim Rückflug zu dieser Kartoffel ums Leben kommen würde. Er würde ersticken. Irgendwas stimmte mit dem Shuttle nicht. Es würde heil unten ankommen mit lauter erstickten Astronauten an Bord. Der liebe Gott hätte sich das, was den Astronauten bevorstand, ansehen können, wenn er gewollt hätte. Vergangenheit. Zukunft. Kein Problem. Der liebe Gott konnte das Geschehen auch für einen Moment anhalten. Die Menschen nannten es Gegenwart, wenn der liebe Gott das Geschehen anhielt. Er machte das dauernd. Jedenfalls kam es den Menschen so vor. Jetzt überlegte der liebe Gott, ob er die Fernbedienung beiseite legen und  etwas neues erschaffen sollte. Ich bin eine richtige Couch Potatoe geworden, dachte er, mit 50 Milliarden Jahren wird es Zeit, noch einmal von vorn anzufangen.

Du spinnst, sagte der Clown, und blickte ihm mit einem spöttischen Lächeln in die Augen, aber im Laufe der Begebenheiten, fügte er selbstironisch hinzu, wird alles klar werden.

 

2

 

Dann hörte der Clown auf zu lächeln. Er sagte: Du denkst zu viel. Das stimmte. Das war seit jeher ein Problem. Zu viele Gedanken. Zu viel Bedeutung. Viel zu viele Geschichten. Was Geschichten anging, war er wie ein Nilforscher. Immer stromaufwärts, immer auf der Suche nach den Quellen. Die Leute kamen zu ihm in die Praxis, legten sich auf eine Couch und sprachen alles aus, was ihnen durch den Kopf ging. Das gehörte zu den Regeln. Es sprudelte nur so. Kristallklare Quellen plätscherten, Bächlein hüpften über bemooste Steine ins Tal und vereinigten sich zu Flüssen, die Uferpromenaden hatten und sich durch anmutige Landschaften schlängelten. In den Villen an solchen Promenaden wohnten seine Patienten. Die meisten besaßen Anteile an irgendetwas Großartigem, das man vom Weltraum aus sehen konnte. Falls es eines Tages versehentlich doch zur Auferstehung käme – sie wären dabei. Sie waren immer bei den ersten gewesen und würden auch diesmal bei den ersten sein. Ihre Seelen würden in den Himmel steigen und zu den Pyramiden oder Hochhäusern oder Staudämmen oder anderen großartigen Sachen hinab deuten, die ihnen zu Lebzeiten gehört hatten und nach der Auferstehung immer noch gehören würden.

Solche Leute kamen in seine Praxis, wenn sie traurig waren und nicht wussten warum. Sie legten sich auf die Couch und fingen an, ihre Geschichten zu erzählen, Geschichten wie begradigte Flüsse – bis die Dämme brachen, bei einigen früher, bei einigen später, und sie ihren Phantasien nachgaben. Die Phantasien waren keine kristallklare Quellen oder silbrige Bächlein oder begradigte Flüsse, es waren trübe Ströme, die sich dahinwälzten, totes Holz und tote Tiere mit sich schleppend gurgelnd und schmatzend. Jeder hat einen Nil im Kopf. In diesen Strömen gab es Nilpferde und Krokodile. Fast alle Geschichten handelten von Nilpferden und Krokodilen in trüben Strömen. Die Geschichten, die von dem handelten, weswegen die Saurier ausgestorben waren, nannte er Nilpferdgeschichten. Sie entstanden in der Gegend zwischen Bauchnabel und Knie. Nilpferde sind Schweine. Sie wirken monströs, sind jedoch im Grunde harmlos, und wenn sie gähnen, sehen sie sogar ein wenig lächerlich aus mit ihren Zahnlücken.

Einer seiner Klienten, Hans Breuning, erzählte zitternd vor Scham, dass er einmal pro Woche eine Dame in schwarzem Lack aufsuchte, die es ihm tüchtig – die ihm tüchtig den Hintern versohlte. Das waren Nilpferdgeschichten. Breuning kam zu ihm in die Sprechstunde, weil er geheilt werden wollte. Er gab zu verstehen, dass die Sache zu kostspielig wurde: Das Mädchen ist noch teurer als Sie, sagte er, obwohl ich zu Ihnen dreimal die Woche komme. Und plötzlich sah man für einen Moment den gezackten Rücken eines Krokodils unter der Wasseroberfläche.

Die Krokodilgeschichten waren viel interessanter als die Nilpferdgeschichten. Sie handelten von dem, was man sein, haben und tun musste, um in den Besitz von Pyramiden, Hochhäusern und anderen großartigen Dingen zu kommen, die man vom Weltraum aus sehen konnte. Sie entstanden in der Gegend zwischen Scheitel und Zähnen. In den Krokodilgeschichten ging es um Gier, die Gier der Mund- und die Gier der Schädelhöhle.

An der Wand in seinem Arbeitszimmer hing hübsch hinter Glas der sensorische Homunkulus von Wilder Penfield, eine schematische und grotesk verzerrt wirkende Darstellung der rechten Körperseite entsprechend ihrer Repräsentation in der linken Hirnrinde. Der Rachen, die Zunge und besonders die Lippen beherrschten ein riesiges Gebiet. Gemessen an diesem Kontinent war der Bereich zwischen Bauchnabel und Knie nur eine Provinz.

Der Clown sagte: Zu viele Geschichten, zu viel Bedeutung, zu viele Gedanken. Schon als er Fünfzehn war, hatte er zuviel nachgedacht. Er las Bücher über Dinosaurier und glaubte nicht, dass sie ausgestorben waren. Er stellte die Theorie auf, dass sie sich in eine unentdeckt gebliebene Region der Erde zurückgezogen hatten. Wenn er erst einmal groß war, würde er eine Expedition zusammenstellen und nach ihnen suchen.

Du bist inzwischen groß, sagte der Clown.

Er hatte Bücher über die Pyramiden gelesen und bezweifelt, dass die Pharaonen immer noch unversehrt in ihren Gräbern lagen wie vor vier- oder fünftausend Jahren. Ihre Mumien waren bestimmt längst verschimmelt. In der Jugend ist der Gerechtigkeitssinn besonders ausgeprägt, und er fand es vollkommen in Ordnung, dass die Mumien der Pharaonen verschimmelt waren.

Über die chinesische Mauer hatte er als Junge ebenfalls Bücher gelesen. Deshalb wusste er, dass man sie vom Weltraum aus sehen konnte. Das hatte ihn sofort überzeugt. Die Kundschafter von fernen Planeten, die auf ihrem Weg durchs All in ihren Raumschiffen achtlos an der Erde vorbeiflogen, konnten sie sehen. Aber es war ihnen egal.

Jetzt ging er auf die Fünfzig zu. Manchmal, zum Beispiel an einem Tag wie heute, kam er sich vor wie der liebe Gott mit 50 Milliarden Jahren. Weitsichtig war er auch schon. Er hielt die Bücher mit ausgestrecktem Arm von sich, als würde er sich vor ihnen ekeln, wenn er sie las. Als Junge hatte er einmal ein ganzes Lexikon durchgelesen, von A („Abkürzung für >Anno<“) bis z.Zt. („Abkürzung für >zur Zeit<“). Zum Glück war das Lexikon einbändig gewesen. Er besaß dieses Lexikon immer noch, las aber nicht mehr darin. Es war viel zu schwer, um es mit ausgestrecktem Arm vor sich hin zu halten.

Gestern hatte er seinen 49sten Geburtstag gefeiert, der, genau genommen, der erste Tag seines 50sten Lebensjahrs gewesen war. Aber ausgerechnet daran hatte er gestern nicht gedacht. Er hatte mit seiner Frau angestoßen und gemeint: Immerhin bin ich noch ein Vierziger. Was nicht stimmte. Wenn er nachdachte, musste er zugeben, dass er gestern in sein 50stes Lebensjahr getreten war und nun auf die 60 zuging. Dem lieben Gott war das egal.

Dem Clown war das nicht egal. Er fragte: Wie kann man bloß 50 werden? Keine Ahnung. Vermutlich passiert es einfach. Man schlüpft auf die Welt, krabbelt ein bisschen herum, lernt laufen, lernt >Mami< und >Papi< sagen, wächst aus den Windeln, erschlägt den Vater, heiratet die Mutter. Es dauert eine Ewigkeit, bis man fünf wird, und zwei weitere Ewigkeiten bis fünfzehn. Dann ist man plötzlich 50. Die Zeit legt dir den Finger an die Schläfe und färbt sie grau.

            Einen Mann mit Lebenserfahrung erkennt man daran, dass er sich blind rasieren kann, ohne sich zu schneiden. Er blickte dem Clown in die Augen und zog mit dem Klingenhalter den Schaum aus seinem Gesicht. Der Clown blies die Backen auf, um die Falten zu glätten, die von den Nasenflügeln links und rechts in zwei symmetrischen Bögen schräg nach unten fielen. Er zog dem Gesicht im Spiegel weiße Schaumbahnen von den Wangen, vom Kinn, von der Kehle. Am Adamsapfel war er besonders vorsichtig. Die Haut dort sah aus wie die von einem toten, gerupften Huhn. Er straffte die Haut von dem toten, gerupften Huhn mit zwei Fingern der linken Hand und zog mit dem Klingenhobel in der rechten den Schaum ab. Der Clown war verschwunden. Er sah jemandem in die Augen, den er von Fotos kannte. Die Leute sagten, es wäre sein Gesicht. Schon möglich. Hauptsächlich war es das Gesicht seiner Mutter, bei der Mundpartie in etwa das seines Vaters. Alles in allem war es das Gesicht seines amerikanischen Großvaters, mütterlicherseits. Vor annähernd 40 Jahren hatte er, eine Kommunionkerze in der Hand, im schmucken Knabenanzug neben seinem Großvater gestanden und darauf gewartet, dass das Vögelchen herauskam, wie der Fotograf kindisch sagte. Das Vögelchen war herausgekommen und hatte die Erinnerung verewigt. Wenn der liebe Gott zurückgespult und dann auf der Fernbedienung die Pausentaste gedrückt hätte, wäre ein Standbild zum Vorschein gekommen, das einen Mann in seinen frühen Sechzigern zeigte und daneben einen zehnjährigen Jungen, der neben seinem Großvater aussah wie ein zweiter Versuch. Jetzt ging der zehnjährige Junge selbst auf die 60 zu und wurde dem ersten Versuch immer ähnlicher. Seine Mutter lebte nicht mehr. Er hatte sie geliebt und ihren schrecklichen Tod lange betrauert. Trotzdem fühlte er sich unbehaglich bei der Vorstellung, sie würde noch leben und zusehen, wie ihm die Zeit mit unerbittlicher Geduld die Maske der Ähnlichkeit mit seinem Großvater übers Gesicht zog, wie ein Sohn sich allmählich in den Vater der Mutter verwandelte.

 

3

 

Auf dem Adamsapfel erschien ein kleiner Rubin. Also war sein Blut immer noch rot, rot und dick wie am ersten Tag. Ein gutes Zeichen. Es hätte ihn an diesem Morgen nicht gewundert, wenn es altrosa und wässrig gewesen wäre. Und doch schien seine Lebenserfahrung nicht einmal zu genügen, um mit offenen Augen zu vermeiden, dass er sich beim Rasieren schnitt. Noch ein gutes Zeichen. Auch wenn es schlecht für den weißen Hemdkragen war, unter den er eine Krawatte binden würde, sobald er sich angezogen hatte. Seine Klienten empfing er stets in Anzug und Krawatte. Einer seiner Lehranalytiker hatte Pullover und Turnschuhe getragen, abscheulich. Wenn man den Leuten schon in die Eingeweide greift, symbolisch gesprochen, sollte man wenigstens äußerlich auf eine gewisse Förmlichkeit achten. Die Krawatte half ihm, diesem Breuning, der einem Psychoanalytiker das Herz ausschüttete, weil ihm das Hinternversohlen zu kostspielig wurde, nicht ins schmallippige Gesicht zu lachen.

Aus Gewohnheit trug er die Krawatte auch am patientenfreien Donnerstag. Der Donnerstag war zu seinem Lieblingstag geworden, ganz den Studien gewidmet, wie er sich auszudrücken pflegte, wenn er Patienten abwimmeln musste, die um zusätzliche Termine flehten. Nur bei einer Klientin war er zu Ausnahmen bereit gewesen.

Er riss ein Fitzelchen Klopapier ab und klebte es auf den Adamsapfel. Das machte er seit der Pubertät so. Der liebe Gott, dem das egal gewesen war, hatte ihm eine heftige Pickelphase nicht erspart. Damals führten seine Rasierversuche zu Blutbädern. Auf die Wunden drückte er Papierfitzelchen, damit das Blut schneller gerann. Er fand, dass er aussah, wie von Ratten beknabbert. Trotzdem musste der Flaum weg. Die Pickel mussten auch weg, aber dagegen konnte er nur wenig tun. Der Flaum der Unreife ließ sich immerhin abschneiden. Seine Mutter küsste tröstend seine picklige Stirn, und er wand sich vor Ekel, Ekel vor sich selbst, seinen Pickeln, seinem Flaum, seiner fünfzehnjährigen Halbmännlichkeit. Seine Mutter ließ zartfühlend davon ab, ihn zu küssen, und er wand sich vor Scham, Scham vor sich selbst, weil er nicht davon ablassen konnte, darüber nachzugrübeln, ob sie ihn mit ihrer Liebkosung nur nicht demütigen wollte oder ob sie ihn nicht mehr liebte. Er hielt es fast nicht aus in dem Quadratmeter Haut, der ihn umschloss, und wartete äußerlich verstockt und innerlich bebend darauf, endlich aus ihr herauszuwachsen. Vielleicht ist 50 gar kein so schlechtes Alter.

Er schaltete die elektrische Zahnbürste ein. Sie lief exakt zweieinhalb Minuten und hielt dann automatisch an. Zweimal täglich Zähneputzen macht fünf Minuten; macht in der Woche fünfunddreißig Minuten; macht übers Jahr gut dreißig Stunden. Vom Beginn seines vierzigsten bis zum Beginn seines fünfzigsten Lebensjahrs hatte er dreihundert Stunden lang Zähne geputzt, zwölfeinhalb Tage. Vor diesen zwölfeinhalb Tagen, über zehn Jahre verteilt, hatte er seine Stelle in einer Suchtklinik aufgegeben und sich als Psychoanalytiker niedergelassen. Es war eine feine Suchtklinik gewesen, voller Leute bekannt aus Film, Funk und Fernsehen: Koksende Talkshowmoderatoren auf der Suche nach einer zweiten Chance, koksende Fußballtrainer, koksende Künstler, koksende Schriftsteller. Die koksenden Schriftsteller waren die schlimmsten von allen. Schriftsteller sind fast immer die schlimmsten von allen. Das war die weiße Abteilung, wie es im Klinikjargon hieß. Die goldene Abteilung war die der Trinker. Und der Trinkerinnen. Er hatte alte Damen erlebt, die versuchten, junge Pfleger mit vierstelligen Beträgen zu bestechen, um an Alkohol zu kommen. Er hatte eine Frau in den besten Jahren erlebt, eine adrette, vom Trinken noch nicht ausgezehrte Fünfzigerin, die im Bademantel aus der Klinik entwichen war. Sie wurde im Morgengrauen an einer Tankstelle aufgegriffen. Sie saß vergnügt auf dem Boden, an eine Zapfsäule gelehnt, um sich herum die verstreute Armee leergetrunkener Kleiner Feiglinge. Er hatte ein nahezu skelettiertes Ex-Model erlebt, das sich in ihrer Villa mit Whiskey das Fleisch von den Knochen soff, während ihr Mann Damen in schwarzem Lack den blanken Hintern hinhielt.

So war er an Breuning gekommen. Drei Jahre lang hatte er dessen Frau nach ihrer Entlassung aus der Klinik behandelt. Es war ihm nicht gelungen, ihren Selbstmord zu verhindern. Jetzt war der Ehemann dran. Er hatte Gefühle, wenn dieser Mensch sein Behandlungszimmer betrat, und konnte diese Gefühle nicht abspalten. Das war unprofessionell. Mit Hilfe eines Supervisionsanalytikers rang er darum, sich von diesen Gefühlen frei zu machen. Er hatte sie nicht wegen der albernen Nilpferdgeschichte, sondern wegen der Krokodile im trüben Strom. Sie fraßen sich gegenseitig vor Gier. Vielleicht konnte der liebe Gott vom Weltraum aus die Konturen des Würmsees erkennen. An dessen Ufer hatte Breuning sein Anwesen, zwischen den Villen mit Parks anderer Vorstände und Firmeninhaber und Neureicher und Familien, die seit Generationen vermögend waren. Breuning gehörte zu einer seit Generationen vermögenden Familie. Manchmal philosophierte er darüber auf der Couch, wenn er sich erst noch warm reden musste, bevor er auf die Dame im schwarzen Lack zu sprechen kam. Wenn Breuning auf der Couch philosophierte, während er schweigend hinter ihm in einem Ohrensessel saß, waren die Krokodile fast körperlich zu spüren, schienen mit ihren Stummelbeinen gemächlich über den Teppich zu kriechen.

Die meisten Leute schämen sich für ihre Nilpferde und sind stolz auf die Krokodile. Wäre dem lieben Gott nicht alles egal, müsste es umgekehrt sein. Was ist die Gegend zwischen Bauchnabel und Knie im Vergleich zu der zwischen Zähnen und Scheitel? Die meisten Leute schämen sich für die falschen Sachen.

Vielleicht kam der Hass, den er auf den Mann empfand, daher, dass es ihm nicht gelungen war, zu verhindern, dass sich die Frau dieses Mannes das Leben genommen hatte, erst allmählich mit dem Gold aus der Flasche und dann abrupt mit einem Tablettencocktail. Sie war drei Jahre lang fünfmal in der Woche zu ihm gekommen, auch Donnerstags. Aber die 50 Minuten Obhut jeden Werktag hatten nicht genügt. Sie hatten genügt, um sie daran zu hindern, wieder mit dem Trinken anzufangen, aber nicht, um ihr zu helfen, wieder mit dem Leben anzufangen. Sie war keine dreißig Jahre alt geworden. Sie war ein armes, zerbrochenes Püppchen gewesen. Einmal hatte sie gesagt: Als Kind war ich ein Engel mit schwarzen Korkenzieherlocken und als Mädchen die Schönste im ganzen Land, mit Lippen rot wie Blut, Haut weiß wie Schnee, Haar schwarz wie Ebenholz, direkt ein Ausbund an Schönheit. Aber dann hat jemand Schneewittchen vergiftet, und dieser jemand bin ich selbst. Er konnte von seinem Sessel hinter dem Kopfende der Couch sehen, wie sie erstarrte, vollkommen reglos wurde, dalag wie eine Tote im Sarg. Nach einer Weile führte sie eine Hand zum Mund und begann, an den Fingernägeln zu knabbern, die alle bis auf die Nagelbetten herabgebissen waren. Er hörte in der Stille nur das nagende Geräusch und konnte nichts tun, er konnte einfach nichts tun.

Es war seine größte berufliche Niederlage, dass er es nicht vermochte hatte, Schneewittchen zu retten. Vielleicht war es auch seine größte menschliche Niederlage. Aber es so zu sehen war unprofessionell. Inzwischen saß er dreimal die Woche hinter dem Kopf ihres Mannes im Ohrensessel, hörte ihm beim Philosophieren zu, glaubte Krokodile durchs Zimmer kriechen zu sehen und hasste ihn. Vielleicht sollte er die Behandlung abbrechen?

Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, zupfte das Fitzelchen vom Kehlkopf und trocknete mit einem weißen Handtuch das Gesicht von dem Mann, der im Spiegel über dem Waschbecken aussah, als befände er sich in den besten Jahren. Irgendetwas muss ich tun. Das fünfzigste Lebensjahr ist genau das richtige, um noch einmal von vorn anzufangen. Ich könnte meine Würmseekundschaft hinaus werfen und zu Kassensätzen Leute ohne Pyramiden behandeln. Er tippte sich noch einmal an die Stirn und sagte zu dem Mann im Spiegel: Bist du der Heilige Franziskus? Musst du etwa keine Krokodile füttern? Und hatte nicht schon Sigmund Freud geklagt: „Genötigt, von unserer ärztlichen Tätigkeit unseren Unterhalt zu bestreiten, sind wir nicht in der Lage, unsere Bemühungen auch den Mittellosen zuzuwenden.“ Na also.

 

4

 

Ein Kissen war von der Couch geglitten. Er bückte sich und hob es auf. Nachdem er es richtig drapiert hatte verpasste er ihm einen Handkantenschlag. Jetzt saß es da mit gespitzten Ohren und wartete, dass morgen Hans Breuning kommen, es zwischen die Fäuste nehmen und zerknüllen würde beim Erzählen von der schwarzgelackten Dame. Auch von anderen Patienten wurden die Kissen malträtiert. Manche drückten sie an die Brust, wenn sie stöhnten, manche an die Augen, wenn sie weinten. Manche schienen sie zwischen ihren Fäusten zerfetzen zu wollen wie Breuning. Sie legten sich auf die Couch, walkten die Kissen durch, bis die Federn im Innern zu Mehl zerdrückt waren, und erzählten, erzählten, erzählten.

Er schob sich im Gehen die beim Kissenaufheben verrutschte Krawatte zurecht und nahm hinter dem herrlichen Schreibtisch Platz, der drei Meter von der Couch entfernt frei im Raum stand. Es war ein geschwungener Jugendstilschreibtisch mit Intarsien in den Türen vor den Schubladen, feine, köstlich gearbeitete Intarsien, stilisierte kranichartige Vögel darstellend, die Flügel gebogene Linien, zart und voll Kraft. Auf der linken Seite der Tischplatte lag ein aufgeklapptes Handy, das Display noch dunkel. Rechts ruhte ein naturgetreues Bakelitmodell des menschlichen Gehirns auf einem Sockel. Man konnte es auseinandernehmen. Die einzelnen Teile fühlten sich schön an. Glatt und kühl. An der Vorderkante des Tisches, der Couch zugewandt, reihten sich die sieben Todsünden: Superbia – die Hoffart, Avaritia – die Gier, Invidia – der Neid, Ira – der Zorn, Luxuria – die Wollust, Gula – die Unmäßigkeit, Acedia – die Trägheit. Jede der Elfenbeinfiguren war so groß wie ein Daumen. Die Patienten konnten sie nur von hinten sehen, beim Hereinkommen, bevor sie sich auf die Couch legten und an die Decke starrten, oder an die Innenseite ihrer Lider. Für ihn waren es Amulette gegen die Klagen der Psyche, die von der Couch aufstiegen, Abwehrzauber gegen Geister und Gespenster, gegen das Übermaß an Symbolen, gegen all dies maßlose Bedeutenwollen. Breuning hatte die Figuren im Scherz einmal als die sieben Zwerge bezeichnet und dann, nach einer längeren Pause, hinzugefügt, seine Frau habe sich in ihren letzten Lebensjahren für Schneewittchen gehalten, die Ärmste. Vielleicht sei es so, wie es dann gekommen wäre, doch am besten gewesen.

 

TDDL_2009_banner_beige_0: descriptionTDDL_2009_banner_beige_0: description