Dagrun Hintze, Hamburg (D)

Dagrun Hintze wurde 1971 in Lübeck geboren und lebt in Hamburg. Hintze wurde zum Bewerb von Burkhard Spinnen vorgeschlagen.


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Dagrun Hintze

Flugangst


War das jetzt multifunktional oder universal?

Du hast vergessen, wie man das auseinander hält, Definition für Definition, aber wundern kann dich das nicht, mit der Wissenschaft gab es von Anfang an diese Schwierigkeit, dieses Fehlverhalten auf deiner Seite, weißt du noch, der Dozent in Bart und Sandalen, gleich unter die erste Hausarbeit nur ein Satz, dafür in Rot, dein erstes präzis formuliertes, scharlachfarbenes Waterloo: Das ist kein wissenschaftliches Arbeiten. Du hingegen hattest gedacht, der Text würde leuchten, als Beispiel, und so verflucht viel Brillanz bei einer Erstsemesterin, stattdessen dieser scharlachfarbene Satz, du hast zwei Wochen zu Hause gelegen, geheult, den Dozenten dann nicht mehr gegrüßt, das Seminar penibel geschwänzt, als ob das irgendwas nützte. Die Zwischenprüfung noch abgelegt, mit Eins, ein stichhaltiger Beweis nach draußen, dass du kannst, was sie von dir wollen, wenn du dir nur die Mühe machst, es immer besser konntest als alle anderen, nur wollen wolltest du dann eben nicht mehr und wurdest lieber - Journalistin. Ungeschützter Beruf, ungeschützte Bezeichnung, typisch, dass du genau so etwas geworden und heute noch immer nicht in der Lage bist, dir Definitionen zu merken, multifunktional, universal und was sonst in die Bestandsaufnahme gehört.

Der Raum hier gleicht jedenfalls einer Besenkammer, zehn Quadratmeter, vielleicht, die Decke gerade mal zwei Meter über Null. Sechs Holzhocker auf dreckigem Teppich, an der einen Wand dies sonnengelbe Ölbild, das du nicht angucken kannst, ohne zu lachen, an der anderen eine Reihe Sockel mit Glaskolben und Schüsseln. In den Schüsseln verschiedene Samenkörner, um sie bei Bedarf in die Kolben zu schmeißen, und nur eine Wanddicke entfernt gleich der ganze Hauptbahnhof. Bestimmt sind Dämmmaterialien benutzt worden, aber was sollen die ausrichten, gegen minütlich einratternde Züge, gegen Straßentunnel oben und unten?

Eine Dame mit beseeltem Blick hält Wache vor dem Eingang und hat dich freundlich ernst willkommen geheißen, die Schiebetür hinter dir zugeschoben, nicht ohne anzuregen, dass du hier nicht nur recherchieren sondern wirklich zur Ruhe kommen könntest, das meint sie tatsächlich - mitten im Rattern der Züge, mitten im Autotunnelzwischendeck und dem ganzen Lärm, den Menschen im Hauptbahnhof sowieso machen. Jetzt sitzt du hier, unterdrückst einen Lachkrampf, das geht nur, wenn du dem Ölbild den Rücken zuwendest, und weißt immer noch nicht: War das jetzt multifunktional oder universal?

Die Dame hat gesagt, Gebetsteppich und -kette würden bereitgehalten, genauso gut könntest du hier ein Vaterunser oder einen Sonnengruß absolvieren, das beherrschst du beides und spricht für multifunktional, statt eines Blumenopfers würdest du Samenkörner in die Glaskolben werfen, jedes Korn ein Wunsch, ein Gedanke, und im Frühjahr ausgesät auf eine benachbarte Grünfläche zum Wurzelschlagen. Erinnerst du dich, auf dieser Unternehmensveranstaltung damals, da waren Live-Schreiber aufgetreten, die schrieben alles auf Zuruf, sogar Liebesbriefe, du warst eingeladen und wusstest nicht mal, warum, aber du hast einen aufsetzen lassen, einen Liebesbrief, an den Chefredakteur Kunst, ein bisschen zum Spaß, und zwei Tage später war er in die Redaktion gekommen, der Brief, und der Chefredakteur hatte die Stirn gerunzelt und erzählt, dass Motorjournalisten bei Testveranstaltungen manchmal Blankoschecks bekommen sollen, von den Autoherstellern als Give Away. Give Away. Jetzt, hier, bei dir, kein Blankoscheck, sondern nur Samenkorn, Kürbis, Sonnenblume oder sonst was, das niemals ausreichend tief in den Boden schlägt geschweige denn in die Luft, und universal bedeutete eigentlich völlig neutral, daran erinnerst du dich jetzt, erstmals eingerichtet von Dag Hammerskjöld im UN-Hauptquartier, übernommen im Brandenburger Tor, nördliches Torhaus - das hast du doch alles längst recherchiert.

 Dagrun Hintze (Foto ORF/Johannes Puch)

Als du die Schiebetür wieder aufmachst, erwarten dich Dame und Blick, Besucherzahlen gäbe es nicht, aber seien die überhaupt nötig? Sie wache hier ein Mal in der Woche zwei Stunden, und diese Stunden verliefen immer verschieden, manchmal ein Gast nach dem anderen, manchmal gar niemand, manchmal Leute mit Cheeseburgern, die sie in Ruhe verzehren wollen, dürften sie dann aber nicht. Ob Teenies zum Fummeln da rein gehen, traust du dich nicht zu fragen, auch nicht, ob das für Junkies und Dealer nicht ganz schön praktisch hier sei - da erwähnt sie den Knopf, ganz von selbst, den roten, unter dem Tisch, gedrückt klingelt beim Schuster zwei Läden weiter die Glocke Alarm, wir werden von einem Muslim geschützt, und der bereinigt dann alles.

Bis zum Einkaufszentrum, nächster Ort der Recherche, sind es nur ein paar Schritte. Du folgst einem veralteten Lageplan, der dich erst mal direkt zu einem Fanshop von Bayern München führt. Da muss irgendwas ganz falsch gelaufen sein, überlegst du, und ob du gern ein Luca Toni-Trikot hättest, für nachts, für im Bett.

Vor multifunktional oder universal existierte lange nur ein einziger Typus, Kapelle. Auf Schalke hat man ihn samt Altar in die VIP-Katakomben gebaut, da würdest du reinkommen mit dem Presseausweis, weißt aber nicht, wie nötig es ist, alles mit eigenen Augen zu sehen, ein gutes Foto das A und O, das Alpha und das Omega. Im Olympiastadion noch mal dasselbe, Wände voll Blattgold, ein schimmernder Rahmen für Taufe, Hochzeit und Tod.

Du kaufst das Trikot tatsächlich und bittest um eine Tüte, neutral, gibt's aber nicht, und Wut willst du nirgends erregen, hier ist Norddeutschland, wo man andere Fan-Farben trägt und wenig Katholische kennt. Beate Uhse sorgte damals dafür, dass bestellte Produkte in neutraler Verpackung ins Haus kommen, das ist anders als bei deinem Presseausweis, da war anfangs Triumph, wenn der Postbote Journalistenverband auf dem Umschlag erkannte, manchmal hast du an der Supermarktkasse mit Absicht das Portemonnaie fallen gelassen, nur um den herausgerutschten Ausweis aufzuheben und kurz aufs Fließband zu legen, in der Hoffnung, die Kassiererin wäre beeindruckt. Es geht doch immer nur darum, zu irgendwas dazuzugehören.

Du überlegst, ob du mal was über Sport und Kultur machen solltest, ein Interview mit Luca Toni, Italian Stallion, würde nicht unmöglich sein, und vielleicht könnte er sich dafür einsetzen, in norddeutschen Bayern München-Fanshops neutrale Tüten bereitzuhalten, wenn es doch in norddeutschen Andachtsräumen schon muslimische Gebetsteppiche gibt, Beate Uhse kam, glaubst du, aus Flensburg, vielleicht protestantisch, wenn überhaupt, wahrscheinlich eher neutral.

Du knüllst die Tüte unter deinem Ellbogen zusammen, der Verkäufer hat nicht gewusst, wie du an dein eigentliches Ziel kommst, und ein wenig die Stirn gerunzelt, dann hat er dir immerhin den Weg zum Infostand erklärt. Dort zeigt ein freundliches Mädchen, das Logo des Einkaufszentrums auf Mütze und Shirt, nach draußen, übereine Brücke, so weit weg von der Mall, fragst du, und das Mädchen weiß einen Augenblick nicht, was du meinst, deshalb sagst du noch einmal: Einkaufszentrum. Jetzt zuckt das Mädchen die Schultern, eine Bestätigung offenbar, du marschierst los, über die Brücke, und weißt nicht, warum man hier einen Abklatsch von Kirchen einrichten muss, echte gibt's doch genug, und bestimmt sind sie schöner als das hier.

Obwohl du die ganze Brücke überquertest, die Tüte unter dem Arm, hast du dein Ziel dann doch nicht betreten. Im Vorraum saßen schon einige Omas, das Haar weiß, gelb und lila, die aßen Kuchen und tranken Kaffee, die Einkaufszentrumsgemeinde stellt jeden Tag Bleche und Kannen hin. Und die Omas waren so fröhlich, hatten sogar eigene Schlagsahne dabei, aus den Handtaschen lugten die Wegwerf-Syphons, für die der Gemeinde das Geld fehlt. Du wolltest nicht stören mit deiner Bitte, den Raum zu sehen, du wolltest dich nicht ausweisen müssen, den Kaffeeklatsch sprengen, es war doch besser, sie trafen sich hier, wenn schon sonst keiner nach ihnen, nach Gott oder nach irgendwas fragte. Draußen nur Tüten auf Beinen, die Öko-Kosmetik-Kette druckt eine Palme darauf, mehr ist nicht übrig, die Terminkalender sitzen im Nacken und haben den Sonntag gestrichen. Drinnen trinkst du Kaffee mit den Omas, das Einkaufszentrumsprojekt sei ökumenisch, sagen sie, und das reicht dir als Information.

Dagrun Hintze (Foto ORF/Johannes Puch)

Am liebsten wäre dir jetzt die Wanne im eigenen Bad, auch das ein stiller Raum, der alles bietet an Rückzug und Frieden. Im Schaumgebirge dämmern, die Dellen nicht sehen, wann hat das eigentlich angefangen, wann hat sich dein Hintern für Cellulite entschieden, das Luca Toni-Trikot hast du jedenfalls in XXL gekauft, damit es luftig darüber hängt. Du könntest die Schenkel bürsten und kalte Güsse machen, die Q10-Lotion benutzen und hoffen, dass sie was bewirkt, du könntest dir die Augenbrauen zupfen und dich der Pflege deiner Zahnzwischenräume widmen, nur um dich wieder einmal zu erinnern an damals, als all das nicht nur nicht nötig war sondern einfach undenkbar. An damals, du hattest dich gerade wieder aufgerappelt nach Das ist kein wissenschaftliches Arbeiten, du verweigertest dem Bart- und Sandalendozenten gerade den Gruß und die weitere Seminarteilnahme, du hattest keine Ahnung von Q10 und noch niemals Zahnseide gekauft, da landetest du in der Bibliothek neben einem und wolltest sofort nicht mehr aufstehen. Am Abend nahm der dich nicht mit nach Haus, den Grund dafür erfuhrst du erst später: Er hatte Bettwäsche aufgezogen, für die er sich schämte, von der er fürchtete, du würdest dich nicht hineinlegen lassen, Borussia, und wahrscheinlich hatte er Recht. Als ihr dann zusammen lebtet, in einer Wohnung unter dem Dach, vergeigte der Verein am letzten Spieltag die Meisterschaft, und du suchtest im Schrank nach den alten Bezügen und zogst sie ihm auf, zum Trost.

Beim Chefredakteur Kunst hattest du schon gelernt, weniger Umstände zu machen, der Live-Schreiber-Liebesbrief dein einziger Ausrutscher, zwei Tage später in der Redaktion, wie gesagt - Blankoschecks, Give away. Er trennte sich von seiner Frau, immerhin deinetwegen, doch sie blieb nur ein paar Wochen bei Freundin und Schwester, für eine Übergangszeit wollte sie noch wohnen bei ihm, um von dort aus eine Bleibe in der Nähe ihrer Arbeit zu suchen. Da fiel dir zum ersten Mal auf, dass wirklich jeder nach anderen Regeln spielt. Ungeschützter Beruf, ungeschützte Bezeichnung, mit den Interview-Partnern begannst du später zu schlafen, und die Frau des Chefredakteurs hatte bald eine Wohnung gefunden, renovierte mehrere Wochen, dann berichtete er erleichtert, sie sei nun fort und habe fürs Erste ein Sofa bestellt. Das Sofa kam und blieb eine Nacht, sie schickte es gleich morgens zurück, es habe ihr nicht gefallen und fühle sich ganz und gar sinnlos an. Die renovierte Wohnung blieb also unbewohnt, und von Übergangszeit war nicht mehr die Rede.

Du begingst das Waterloo angemessen, trugst dein eigenes Sofa zum Sperrmüll, kauftest Teppich und Kissen, die zahlten sich aus beim ersten Verkehr, post-Interview, die Liebe höret nimmer auf, so heißt es bei Paulus, der Terminkalender hat den Sonntag gestrichen, doch der Tag, verlassen zu werden, steht fest, ist notiert, nie mehr dieser Mensch, der mit dir abends durch dieselbe Wohnungstür geht und nichts Besseres wünscht. Das ist das, was du weißt, dies letzte Ding, verkleidet als Bettbezug oder Ex-Frau, die es zur Arbeit nicht weit will.

Die Recherche geht weiter.

Neben multifunktional und universal existiert auch holistisch als Kategorie, deshalb betrittst du jetzt den Spirit & Mind-Bereich, hast ein flauschiges Handtuch um dich geschlungen und lässt dich auf neunzig Grad aufheizen. Selbst diese Sauna fällt unter Bestandsaufnahme und will ebenfalls ein Raum sein, der Stille, zwar ohne Bekenntnis oder Kaffee und Kuchen, stattdessen Duftöl und Mandala, farbiges Licht in regelmäßigem Wechsel. Ob man hier tatsächlich spiritueller schwitzt, weißt du nicht zu beurteilen. Es ist Frauentag, das ist dir mittlerweile viel lieber, es tröstet nämlich, auch anderswo Dellen zu sehen. Die Seele zu berücksichtigen, scheint jedenfalls ein Wirtschaftsfaktor zu werden, selbst in der Wellness-Oase, ich will gut aussehen, wenn ich nackt bin, geht es um Meditation, um die menschliche Mitte, wo immer sie sich befindet, was immer dort stattfinden mag, Vaterunser, Sonnengruß, Blumenopfer, Hauptsache ganzheitlich.

Deiner Nachbarin steht der Schweiß auf der Stirn, während sie auf das Mandala an der Wand gegenüber starrt, du könntest im Anschluss noch eine Ying und Yang-Anwendung buchen, die Redaktion würde zahlen, vielleicht. Plötzlich ertappst du dich dabei, mitten in dieser spirituellen Sauna an Martin Luther zu denken, an den hast du garantiert noch nirgends gedacht und niemals, nicht mal an Halloween, obwohl du da aus Prinzip nicht öffnest, wenn die Kinder klingeln, um nach Süßem und Saurem zu brüllen, du findest es widerlich, dass es für Geschenke schon ausreichen soll, sich eine hässliche Plastikmaske überzuziehen, die Dreikönigssinger müssen wenigstens noch etwas leisten, denen würdest du öffnen, aber die singen in Norddeutschland nun einmal nicht.

Dagrun Hintze (Foto ORF/Johannes Puch)

Wofür hat sich Luther solche Mühe gegeben? Hauptbahnhof. Stadion. Einkaufszentrum. Sauna. Voll von Reisenden, Fans, Kunden und flauschigen Handtücher-Frauen - der Markt ist härter geworden, die Veltins-Kapelle in den VIP-Katakomben stellt Ablassbriefe drauf aus. Du hast noch nie an Martin Luther gedacht, hier stehe ich und kann nicht anders - der hat sie einfach an die Tür geschlagen, seine Regeln, der hat die unvermeidliche Wut erregt und Schluss gemacht mit dem Dazugehören.

Du steigst ins Abtauchbecken, da brennt deine Haut. Ying und Yang wirst du lassen, genauso wie holistisch als Kategorie. Zu Hause wirfst du dir das Luca Toni-Trikot über und kriechst unters Laken. Träumst dir die Nacht zurück, als du in Bettwäsche schliefst, die einen anderen trösten sollte - da warst du zum letzten Mal nackt.

Am nächsten Morgen wartet schon das Seemannsheim auf Recherche und Definition, weder multifunktional noch universal, erst recht nicht holistisch sondern multireligiös - was bedeutet, es gibt einen Raum, der alles vereinigt, was Menschen so brauchen zum Glauben. Gleich am Anfang Bibel und Kreuz, zum wiederholten Mal fragst du dich, ob es eigentlich gut tut, einen Hingerichteten anzubeten, ein geschundenes Opfer, das die Wange fast immer nur hinhielt, taugt das als Prinzip für ein Leben, bricht das nicht zusammen, wenn die Menschenwürde ins Spiel kommt, an die glauben doch alle, seit man sich humanistisch bekennt? Auch dafür gibt es hier theoretische Schriften und ein Bild, natürlich abstrakt, das seefahrende Atheisten einlädt zum Meditieren, die haben sicher kein Geld für die Mandala-Wellness-Oase, denen zahlt keine Redaktion ihre Rechnung, aber an Arbeitsbedingungen und Lohn auf Containerschiffen willst du nun wirklich nicht denken. Den Blick ein Stückchen nach rechts, Davidstern und Menora, der Leuchter mit sieben Armen, einen für jeden Schöpfungstag. Wahrscheinlich liegt eine Thora-Rolle im Schrein, falls jemand hier studieren will, den uralten Gott, auch den Christen bekannt, Auge um Auge, und er sah, dass es gut war. Trotzdem ein Text im Alten Testament, der dich einmal beinahe bekehrt hat:

Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hinden auf dem Felde, dass ihr die Liebe nicht aufweckt und nicht stört, bis es ihr selbst gefällt.

Bei der Hochzeit von dem Mann aus der Bibliothek, du hattest damals doch sofort nicht mehr aufstehen wollen, hat ein Trauzeuge das vorgetragen, Trauzeuge, du musstest plötzlich befürchten, dass die Liebe vielleicht doch nimmer aufhört, und die Braut, die kanntest du kaum. Immerhin seid ihr noch heute befreundet, beim hochzeitlichen Dinner das Lächeln auf den Gesichtern der anderen, wie schön, mal eine gute Beziehung zur Ex.

Dagrun Hintze (Foto ORF/Johannes Puch)

Was zum Teufel sind Hinden? Und wie hält ein Dach diesen Raum zusammen? Links hinter dir hockt Buddha in einer Nische, auf den darf man niemals mit Füßen zeigen, das wusste der Reiseführer vor dem Badeurlaub, auch auf die Schwelle zum Tempel darf man nicht treten, aber was, wenn ein unwissender Jude, Katholik oder Moslem einfach im Türrahmen stehen bleibt - beleidigt er Buddha damit? Gebetsteppich und -kette liegen in einer anderen Nische, ein Blick und jedermann weiß die Richtung nach Mekka, egal, ob sie ihm was bedeutet oder auch nicht. Stören die Seeleute sich untereinander, falls sie parallel beten, verträgt sich das Hohelied mit der Sure? Und sind sie nicht sowieso müde und wollen nur zu den Nutten am Hafen, die Messe zu feiern, die sie alle vereint?

Wenn man dich fragt, würdest du statt multireligiös eklektisch sagen, dir gefällt das hier nicht, du verachtest ja schon jedes Supermarkt-Joghurtregal, wegen der Entscheidung, die du da treffen sollst, da kannst du den Presseausweis noch so oft fallen lassen, die nimmt dir keiner ab. Auf Buddha wenigstens hast du niemals mit Füßen gezeigt, ein junger Prinz, der vier Mal ausfuhr und sah: Armut, Alter, Krankheit, Tod. Und er wollte es nicht ertragen und erklärte die Welt schnell zu Schein.

In der letzten Nische findest du ein flammendes Ornament, halb Vogel, halb Mensch, du hast keine Ahnung, wirst fragen müssen und hältst die Wette auf Hindu - vielleicht ein Gott mit süßem Zahn, mit bestechlich offener Flanke? Die Zwischenprüfung legtest du ab bei einem Archäologen, der behauptete, Artemis zu opfern, in seinem Garten.

Eine Stunde lang pendelst du zwischen den Nischen, kein Seemann in Sicht, die folgen sicher noch immer einer roten Laterne, auch Containerschiffe streichen den Sonntag oder was sonst an Tagen heilig sein kann, und fast vermisst du die Hauptbahnhof-Dame mit Blick. Hier hockt draußen, hinter dem Tresen, nur ein mürrischer Typ, ist zuständig für Kaffee, Bettenaufteilung und weltweites Netz, für mehr nicht, darauf legt er Wert. Den Raum selbst hat er niemals betreten, warum auch, er lebt an Land und nicht auf dem Schiff, die heiligen Nischen würden alle zwei Wochen geputzt, und ja, manchmal komme ein Pastor, doch selbst das Englisch sei hier eben knapp. Kurz möchtest du weinen um die armen Matrosen, die Containerschiffsklaven, fern von der Heimat, den eigenen Kirchen, Tempeln, Bordellen, nichts weiter bietet man ihnen als das hier: Ein Bett, Kaffee, Internet-Zugang und eine Nische, die alle zwei Wochen geputzt wird. Aber es ist noch immer ein Job und deine Recherche, und du weißt, wenn die leichte Hand von dir abfällt, dann schreibst du nie mehr.

Du bittest den mürrischen Typ, den Computer benutzen zu dürfen, du darfst und gibst Raum der Stille als Suchbegriff ein. Da erscheint doch tatsächlich ein Link und heißt dich ernst freundlich willkommen: Galerie, Meditation, Gebetswand - wem ist das Internet wohl so sehr zu laut, dass er das programmiert?

Die Andachtsmotive der Galerie übertrumpfen das Ölbild von gestern, ein Klick nur entfernt die Gebetswand, da hat sich Moni verewigt, die in aller Öffentlichkeit bittet und betet, dass Uwe sie nicht verlässt. Du fühlst dich versucht, Moni eine E-Mail zu schreiben, ihr zu raten, den Rechner zu lassen, den Arsch hochzukriegen, ein Waldspaziergang kann bei Liebeskummer Abhilfe schaffen, selbst ein Friseurbesuch, das weißt du aus eigener Erfahrung, und wenn es denn schon ans Grundsätzliche geht: Warum nicht zum Teufel in einer echten Kirche bitten und beten, dafür steht sie ja da und das selten seit gestern? Was ist das bloß für eine Generation, fragst du dich, die ihre Liebesangst an eine Gebetswand mailt? Hat man für die Halloween nach Norddeutschland gebracht, Luthers Konterfei auf Bonbons geschlagen, Räume der Stille erfunden, multifunktional, universal, holistisch und multireligiös, eben Andachts-Filialen, gerade noch analog. Was wollen die denn, Time-Out, Chill-Out, wovon müssen die sich denn nun schon wieder erholen?

Solltest du dich wider alle Wahrscheinlichkeit doch noch reproduzieren, unter Schmerzen, wirst du jeden Sonntag den Wecker stellen und dein Kind in den Gottesdienst zerren, es soll Vaterunser auswendig lernen, Glaubensbekenntnis und das Kyrie gleich noch dazu, dann mag es sich deinetwegen dagegen entscheiden, Definition für Definition, aber bitte in echt, nicht in der Light-Fassung, nicht virtuell oder bei Kaffee und Kuchen, nicht in Gesellschaft eines Sponsornamens, nicht beim Schwitzen in der Bio-Sauna, wenn du ein Kind hättest, würdest du ihm von Anfang an die ganze Bibel vorlesen. Ob du bei diesem Thema langsam den Verstand verlierst, solltest du dich wohl fragen, aber auch, ob nicht längst alles verloren ist.

Du hast einen Interview-Termin ausgemacht, am Flughafen. Obwohl du schon durch warst mit dem Typus, Kapelle, gute Abbildungen eben das A und das O, aber ein Flughafenpastor, das hat dich interessiert, das ist das Gegenteil von ungeschütztem Beruf und ungeschützter Bezeichnung, so heißt genau einer, der am Flughafen eine Kirche hat und an den Gates lauter Schäfchen, die meist gar nicht wissen, dass sie es sind.

Er ist dann jünger, als du gedacht hast, trägt einen grauen Chefredakteur-Anzug, und ein kleines silbernes Kreuz am Revers, das findest du irgendwie sexy. Ihr beginnt mit seinem Beruf, was ich mache, ist nicht grad en vogue, keine Miene verzieht er dabei, und dir kommt das Wort Lausbubengesicht in den Sinn, was dich gleich dazu bringt, alles auszuplaudern: Bahnhof, Einkaufszentrum, Wellness-Oase, Seemannsheim und Internet, und dass du nicht verstehst, was du damit anfangen sollst, was für ein Thema das ist und wer dich eigentlich schickte. Jetzt lacht er, und irgendwann lachst du mit. Mehr als den Raum offen zu halten, wisse er auch nicht zu tun, erklärt er, kurz überlegst du, ob du das Trikot ins Spiel bringen solltest, die Bettwäsche, die Ex-Frau mit dem Sofa, die Dellen an deinem Hintern und dass du immer so gerne dazugehört hast. Du weißt nicht, was geht bei einem Gottesmann und was nicht, du hast noch nie mit einem gesprochen, wie viel Mann ist darin enthalten, genug, um zu registrieren, dass du die Luft anhieltest, als du ihm die Hand gabst, dem Interview-Partner?

Dagrun Hintze (Foto ORF/Johannes Puch)

Stattdessen also fragst du, ob er sich zufällig mit Hindu-Gottheiten auskenne, das flammende Ornament musst du noch klären für dich, halb Vogel, halb Mensch, und er sagt Ja, das stehe für Vishnu, den Alldurchdringenden, und Süßigkeiten wolle der ganz sicher nicht. Woher der Flughafenpastor das weiß, hakst du nach und bist dankbar für ein weiteres Thema, und er berichtet von Asien nach dem Tsunami, zwei Wochen Seelsorgereinsatz, Seelsorger, und dann erzählt er, dass immer wieder Menschen sterben, da oben, an Bord, zum Glück ist das niemals passiert, wenn du in der Luft warst, zumindest hast du es nicht mitbekommen, dann wird er angepiept wie ein Arzt im Notdienst, fürs Seelsorgen. Du bittest ihn, dir etwas zu sagen zu dem, was da kommt, wenn man stirbt, was er glaubt, wie man das aushalten soll, wenn man es schon zu Lebzeiten kaum schafft, irgendwo dranzubleiben, irgendwo dauerhaft dazuzugehören, und danach nur die Aussicht auf Dunkel, Kälte und Würmer. Zwei Beerdigungen im letzten Jahr und beides Mal ein Zusammenbruch, dabei standen die in den Särgen dir nicht einmal nah, doch du fandest nichts, an dem du dich festhalten konntest, seltsam eigentlich, du hattest das erwartet, unter dir ging der Boden auf und angesichts dessen zählte nichts mehr, kein Beruf und kein Ausweis, weder Schönheit noch Liebe, so kurz sie auch blieben, da unten warten die Würmer, des Menschen Hochmut zu fressen und deinen gleich mit dazu, das ist alles, bleibt alles, und du musstest so weinen, dass es dir peinlich war, dass du überlegtest, zur Notaufnahme zu fahren und dir Valium geben zu lassen.

Du weißt nicht mehr, wie lang du schon sprichst, der Flughafenpastor hört immer noch zu, etwas in seinem Blick, das du nicht kennst, das weder die Hauptbahnhof-Dame noch sonst einer jemals im Blick hatte, wenn der auf dir ruhte, es hat im weitesten Sinne mit Wärme zu tun. Du landest im Kitsch, im schlimmsten Klischee, von dem du nie willst, dass es zutrifft, und als du aufhörst zu reden, räuspert er sich. Er habe oft mit Menschen zu tun, die unter Flugangst leiden, sagt er, dabei sei das doch die einzig angemessene Reaktion, was für ein Wahnsinn, sich Tausende von Metern über Null zu begeben, nur mit Blech drum herum und einem Motor, der ausfallen kann, am Steuer ein fehlbarer Mensch, den man nicht einmal kennt, man sollte doch besser fragen, was die ohne Flugangst alles verdrängten, wie krank seien die? Und wie sollte man sonst reagieren aufs Sterben wenn nicht mit Grauen, haltlosen Tränen und einem Valium-Wunsch, wie krank sei es denn, gefasst an offenen Gräbern zu stehen?

Ob es einem Flugangst-Patienten wirklich hilft, sowas zu hören, vermagst du nicht zu beurteilen, aber dir ist, als wären schwere Tiere von deinen Schultern gewichen, und für einen Moment siehst du dich in einem evangelischen Pfarrhaushalt, fünf Kinder um einen Tisch und alle mit roten Backen, eine großherzig offene Tür, immer steht eine warme Suppe am Herd, und gute Worte hast du für jeden. Du hörst den Wecker läuten am Sonntagmorgen, alle fünf Kinder sauber geschrubbt, geht ihr in die Kirche, betet das Vaterunser gemeinsam, ohne den Sonnengruß als Alternative zu haben, und dein Mann hält die Predigt. Oder eine Fahrt im Jeep durch eine der Wüsten, darin die Elenden wohnen, du sitzt am Steuer, trägst ein zerschlissenes Kleid, ein Kreuz um den Hals und bist auf dem Weg zur christlichen Schule, zur Klinik, zum Brunnen - an deiner Seite der Pastor.

Der Ring an seinem Finger ist nicht zu übersehen. Und widerspricht wie das Kreuz am Revers der Behauptung, er würde sich schwer mit Bekenntnissen tun. Wie hat so einer sich hier eigentlich eingeschmuggelt, wie hat diese Kirche ihn reinlassen können, einen, der weiter nichts weiß, als den Raum offen zu halten? Begriffe von Drinnen und Draußen schadeten nur, glaubt er, so könne man getrost das Evangelium seh'n, Jesus, der das Draußen zum Drinnen erklärte, wurde dafür schließlich gekreuzigt. Dann kommt er wieder auf deine Ausgangsbitte zurück und findet, Erde zu Erde würde doch trösten. Dein Gesicht verzieht sich in Abscheu, ein Kaninchen vielleicht, aber gemessen an all dem Aufwand, den Menschsein bedeute, wäre Erde am Anfang und Ende nun wirklich zu wenig. Das klingt nach Kränkung, meint er und verzieht erneut keine Miene. Für einen Moment verschlägt's dir die Sprache, dann gibst du ihm recht und kicherst dabei. Mitten in der Flughafenkirche, zwischen Himmel und Erde, kicherst du haltlos, über dem Altar ein metallenes Kreuz, kein Körper daran, Psalmworte drum rum, die musst du später noch lesen - und vielleicht gibt's ja ein Drittes, vielleicht keinen Zufall sondern das Gegenteil all deiner Waterloos: Buddha ist schuld an Q10. Der junge Prinz, zutiefst gekränkt von Armut, Alter, Krankheit, Tod, erklärte die Welt schnell zu Schein. Während du noch kicherst, spürst du die Tränen sich sammeln, deine Badewanne wäre jetzt der einzig sichere Ort, doch es ist noch immer ein Job und deine Recherche.

Jetzt fordert der Flughafenpastor dich auf, einen Blick in die Moschee nebenan zu werfen. Ihr öffnet die Tür, ein hässlicher Teppich und Latschen, verschnörkelte Nische gen Mekka, mintgrün, und Augenpaare voll Vorwurf. Hier hast du nichts zu suchen, wir werden von einem Muslim geschützt, hier hat er nichts zu suchen, und gemeinsam zieht ihr die Tür wieder zu. Zurück in der Kirche blätterst du wahllos im Gästebuch, bloß um dich weiter zu fangen, nimmst zur Kenntnis, dass Menschen da schreiben an Gott, ohne Umweg, sie scheinen sicher zu sein, dass Gott das auch liest, danken für Besinnung und Einkehr, für Segnung und Trost. Du hast für sowas noch niemals gedankt, das soll auch künftig so bleiben, stattdessen malst du deine Handy-Nummer und E-Mail-Adresse hinein. Das reicht nicht, spürst du, und bittest den Flughafenpastor um einen anderen Stift, scharlachfarben, die Formulierung weißt du präzis, die dich einmal beinahe bekehrt hat. Ehering und Kreuz sind dir längst egal, wer fragt schon nach einem solchen Bekenntnis, du schreibst:

Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hinden auf dem Felde, dass ihr die Liebe nicht aufweckt und nicht stört, bis es ihr selbst gefällt.

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