Katja Petrowskaja (D) Jurydiskussion

Katja Petrowskaja, geboren in Kiew, lebt in Berlin und wurde von Hildegard Elisabeth Keller vorgeschlagen. Sie las den Text "Vielleicht Esther". Ihr Text rückte zum zweiten Mal an diesem Tag eine Urgroßmutter, eine Babuschka, in den Mittelpunkt einer Erzählung und begeisterte.

Katja Petrowskaja (Bild: Johannes Puch)Katja Petrowskaja (Bild: Johannes Puch)

„Ein wunderbarer, starker und kraftvoller Abschluss dieses Tages“ beendete Christian Ankowitsch die sich weit über die Fernsehübertragung hinaus erstreckende Diskussion der Jury über Katja Petrowskajas Text, der als einer der Favoriten in die Preisverleihung gehen dürfte.

Zurückgeblieben im von Nazis besetzten Kiew

Eine gehbehinderte Urgroßmutter, die 1941 im von den Nazis besetzten Kiew zurückbleibt und von der zwei Dinge geblieben sind: Eine Photographie und eine Geschichte. Eben diese Geschichte wird in „Vielleicht Esther“ erzählt. Denn als es heißt, alle Juden hätten sich in Babij Jar zu melden, macht sich die Babuschka auf den Weg, langsam wie die Schildkröte in Zenons Paradoxon, die immer schneller sein wird als der Hase, auch wenn dem eine mathematisch falsche Annahme zugrunde liegt.

Feßmann: Locker und leicht gewebtes gewichtiges Thema

„Locker, leicht gewebt“ - der Text „tanzt und schwebt trotz seines gewichtigen Themas“, lobte Meike Feßmann als erste. Ins Zentrum werde die Urgroßmutter gerückt („wieder eine Babuschka“), die absurderweise zur Sammelstelle gehe, weil sie die Ordentlichkeit der Deutschen manisch anziehe und sie sich den Besatzern stärker verbunden fühle als den Ukrainern. Die Erzählerin imaginiere diese „Fikus-Fiktion“ auf wunderbare Weise, verbinde die Geschichte mit Zenons Paradoxon und der verletzlichen Ferse Achilles – „wunderbar“, so Feßmann.

Jandl outet sich als unglücklich verliebt in die Geschichte

„Ich bin etwas unglücklich verliebt“ in diese „wunderbar spannende Geschichte“, „outete“ sich Paul Jandl. „Vielleicht allzu malerisch“ seien die einzelnen Motive wie jenes des Achilles in die Geschichte verwoben. „Das Problem ist, der Text hat viele Einzelteile, die man in Beziehung zueinander sehen kann, das geht aber fürs Erste nicht auf“. Und, angesichts der komplexen historischen Tatsachen: „Darf ein Autor auf diese Art und Weise Biografie erfinden?“ Eine „heikle Geschichte“, so Jandl.

Winkels, Strigl (Bild: Johannes Puch)Winkels, Strigl (Bild: Johannes Puch)

Winkels: Sie rettet die Großmutter

Für Hubert Winkels zwar ebenfalls eine heikle Frage, aber: „Das geht“ und ist „großartig“. „Sie will nicht erzählen, dass die Babuschka erschossen wird“. Der Aufschub des Erschießens im Text werde mit der Mini-Parabel der Zenonschen Schildkröte, der Gesamtdramaturgie des Textes, erklärt. „Sie rettet die Großmutter die ganze Geschichte lang“. Die einzelnen poetologischen Elemente würden hier gut ineinandergreifen: „Der Fikus“ muss vom Lastwagen verschwinden, damit der Vater überlebt, seine Tochter die Erzählerin geboren werden und uns davon erzählen kann - eine „Genealogie des Erzählens“, so Winkels. Auch authentische Zeugen könnten nicht dafür garantieren, dass sich die Geschichte so zugetragen habe. Diese heiße nicht umsonst "Vielleicht Esther" . "Weil es keine Garantie mehr dafür gibt, was wahr ist“.

Daniela Strigl lobte ebenfalls den von Winkels angesprochenen „kunstvollen Zirkelschluss“: „Das ist zwar logisch falsch aber poetisch stimmt`s: der Fikus ist ein „Schlüsselrequisit“, wobei: „Nur wenn man an die Unzuverlässigkeit der Erinnerung glaubt, kann so eine Geschichte erzählt werden“ – eine sehr geglückte Sache , so Strigl.

Spinnen: Erinnerungen an Martynowa

"Gehe ich fehl oder erinnert mit der Text an den Olga Martynowas", fragte daraufhin Spinnen, zugleich das starke „Ost-Element“ in der deutschen Literatur willkommen heißend. „Eine wunderbare Öffnung des deutschen Sprachraums für die Sammlung europäischer und außereuropäischer Bewusstseinslagen“. Für Spinnen ein Text über die „Aneignung von Geschichte durch die Nachgeborenen." "Ich fühle das Bedürfnis, zwei Weltkriege auf mich zu beziehen. Wie und was musste passieren, damit ich zur Welt komme?" "Sehr intelligent" gemacht sei das, wobei das Problem mit dem gewählten Material darin bestehe, dass es einem „Löcher in die Hände frisst“: Die großen Gräuel des 20. Jahrhunderts, wenn alte Menschen ausselektiert und erschossen werden". Dabei sei der Text jedoch „nicht weinerlich“ und werde der Geschichte in seiner „dramatischen Unverfrorenheit“ „gerecht“.

Keller ging das Herz auf

„Der kraftvolle Applaus nach der Lesung hat es bestätigt – auch mir ist beim Lesen des Textes das Herz aufgegangen“, lobte Hildegard Elisabeth Keller die „unerhörte Weite“ des Textes. Es gäbe keine unzusammenhängenden Einzelteile darin, diesen würden sich erzählerisch aufeinander beziehen und 2.500 Jahre in der Geschichte zurück, zu den Anfängen des Erzählens gehen, wo es heiße, dass sich die Götter die Schöpfung nur als Komödie für sich selbst ausgedacht haben. „Wunderbar geglückt“ sei das und „zauberhaft“, wenn selbstbewusst und gleichzeitig unerhört bescheiden die wichtigsten Fragen des Lebens gestellt würden: „Wer bin ich, und sind wir überhaupt etwas anderes als eine Fiktion?“

Bedenken von Paul Jandl

„Mein Einwand ist die erfundene erschossene jüdische Großmutter“, versuchte Paul Jandl seine Bedenken noch einmal laut zu formulieren, ohne jedoch von Hildegard Elisabeth Keller gehört zu werden, woraufhin sich der Autor beleidigt zurückzog: „Frau Keller spricht, ich verzichte“.

„Ich habe mich wieder und wieder in die Geschichte reingebohrt“, sagte Juri Steiner. Der Begriff „vielleicht“ als Bindeglied zwischen Physik und Metaphysik spiele hier eine große Rolle. Zeit und Raum löse sich auf, es sei die Nachahmung einer Vorahnung, die es so nicht in der Historie geben könne - ein toller Text.

Jury (Bild: Johannes Puch)Jury (Bild: Johannes Puch)

Darf man das überhaupt schreiben?

Meike Feßmann ging auf das von Paul Jandl angesprochene Problem ein, das besonders die Deutschen, "das Tätervolk" beträfe: „Wenn es erfunden ist, ist es Anmaßung, meinen Sie?“ Sie verstehe zwar sein Problem („darf man das dann überhaupt schreiben?“). Gleichzeitig würde es jedoch bedeuten, dass sich nur jene dem Thema annehmen dürften, die in der „Todesstatistik der Literatur“ auftauchten – das könne es nicht sein.

Spinnen: Respekt vor dem Text

„Ich glaube wir sind seit geraumer Zeit nicht mehr auf Sendung“, ging Burkhard Spinnen fehl in der Annahme, von den „Zwängen des Mediums Fernsehen“ befreit zu sein und wurde vom Moderator eines Besseren belehrt. Die eigentliche Frage, sei doch: "Wie geht der Text mit dem schwerbelasteten Material um?" Er folge einer welthistorisch richtigen Deutung, „an der keine Maus einen Faden abbeißt“, so Spinnen. „Die Deutschen haben sich in Kiew benommen wie die Schweine“. Es verdiene Respekt, wie mit dem hier gefügten Material umgegangen werde, ohne sich von der "moralischen Wirkung des Themas dominieren" zu lassen.

Strigl ergänzte: Es müsse möglich sein über einen Text wie diesen zu sprechen, ohne als Kritiker sagen zu müssen: „Es war arg, was passiert ist“, der Text habe das „nicht notwendig“.