Klagenfurter Rede zur Literatur

Die Klagenfurter Rede zur Literatur hielt 2010 Sibylle Lewitscharoff. Die Autorin wurde 1954 in Stuttgart geboren und lebt in Berlin.

 

1998 mit dem Bachmannpreis ausgezeichnet

Für Pong erhielt Lewitscharoff 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2007 wurde sie mit dem Preis der
Literaturhäuser ausgezeichnet, 2008 mit dem
Marie-Luise-Kaschnitz-Preis. Preis der Leipziger
Buchmesse 2009 für Apostoloff.

 

Klagenfurter Rede zur Literatur_Sibylle Lewitscharoff (Bild: Susanne schleyer)Klagenfurter Rede zur Literatur_Sibylle Lewitscharoff (Bild: Susanne schleyer)

 

"Über die Niederlage"

Bei der Eröffnung der 34. Tage der deutschsprachigen Literatur trug Sibylle Lewitscharoff aus ihrem Text mit dem Titel "Über die Niederlage" vor:  

Weshalb die Niederlage eine größere Herausforderung an den Charakter darstellt als der Sieg, und was dies für das Schreiben bedeuten mag.

ÜBER DIE NIEDERLAGE

Wenn Fortuna mit dem Stecken ihr Rad antreibt, müssen die obenauf liegenden Schicksale hinab, während die in den Staub gedrückten wieder empor gelangen. Auf und ab, auf und ab, Fortuna treibt ihre Geschäfte im allgemeinen Gefild, die Schicksale kommen aus dem Allgemeinen und rollen ins Allgemeine. Aber Niederlage ist nicht gleich Niederlage, und was daraus erwächst erst recht nicht. Zwei Spezialisten der Niederlage möchte ich anrufen, zwei große Leidensmänner, lange Schatten werfend bis in unsere Tage, grundverschieden im Charakter und im Handeln: Hiob und Jesus. Hiob, der den Tag ausradiert haben will, an dem er geboren wurde, der mit Macht seine Klage hinausschreit, der gegen alle Einreden auf seiner Unschuld beharrt und damit die Frage nach Gottes diesseitiger Gerechtigkeit in so dringlicher Schärfe stellt, daß Gott selbst zum Antworten verlockt wird; Jesus, diese hohe, sich freiwillig in die Erniedrigung führen lassende Figur, an deren bitterstem Punkt die Gewißheit der Auferstehung zusammenbricht, worauf die verzagten Worte fallen – mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen – sie sind die Modelle, die zeigen, daß aus entsetzlicher Niederlage ein verblüffend anderer Seinszustand strahlkräftig erwachsen kann. Hiob stirbt lebenssatt in hohem Alter, von Gott in seiner Unschuld bestätigt; Jesus kommt in den Genuß der Auferstehung und wandelt sich allmählich in den großen Himmelsmagneten der christlichen Welt. Ein spätes Triumphieren zu Lebzeiten oder jenseits der fleischlichen Existenz war dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Bodewin Keitel, der – öffentlichkeitswirksam – die zweite bedingungslose deutsche Kapitulation in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai in Karlshorst unterzeichnete, nicht vergönnt. Als das Deutsch- Russische Museum in Berlin noch in sowjetischer Hand war, wurden die Besucher von einer hochdekorierten Russin in Uniform in einen großen Saal geführt mit hufeisenförmig angeordneten Tischen und Stühlen, gerade so, wie sie 1945 auch dagestanden haben mochten, mit sogar noch ein wenig dickwandigem Geschirr aus damaliger Zeit auf den vorderen Tischen. An der Stirnseite natürlich die Sowjet- und die DDR-Flagge, dazwischen eine große Filmleinwand. Auf ihr erschien Keitel, ebenfalls an der Stirnseite desselben, nunmehr bis zum Bersten gefüllten Saales, umgeben von hohen Offizieren der alliierten Streitkräfte. Der schwere Mann dampfte. Wutzitternd umklammerten die dicken Finger den Füller, daß die Feder schier zerbrach; die Unterschrift wurde mehr aufs Papier gehackt denn geschrieben. Schnitt. Keitel als Erhängter mit aufgequollener Zunge. Keitel zusammengesackt in einem Eck liegend. Der Zeigestock der Russin tippte, als wolle sie ihm einen letzten Strafschlag versetzen, an das zerstörte Gesicht. Der Mann wurde 1946 in Nürnberg hingerichtet. Keine Restitution und keine Resurrektion, sondern bloß: die totale moralische Niederlage und sonst nichts. Eine törichte, alberne und extrem qualvolle Niederlage brachte sich der japanische Schriftsteller Yukio Mishima selbst bei, indem er sich den Bauch aufschlitzte: am 25. November 1970. Die Tat war geplant als großes Triumphzeichen; der Wiederherstellung des Kaiserreichs sollte sie dienen. Alles ging schief. Mishima brach mit Gefährten in die Kommandantur der japanischen Selbstverteidigungskräfte ein, nahm dabei Geiseln und hielt eine flammende Rede vom Balkon aus, die, als das anfängliche Staunen verflogen war, mit Gelächter und Gejohle quittiert wurde. Na los, mach’s doch, mach’s doch! wurde geschrieen. Mishima zog sich vom Balkon zurück und machte es schlecht. Seine Hand führte den Schnitt nicht mit der nötigen Entschlußkraft aus. Der zum Kopfabhauen bestellte Gefährte schlug schwächlich zu und trennte den Kopf nicht auf einen Streich ab. Kurzum, ein mehrmaliges Geschlitze und Gehacke, das der Entschiedenheit und Eleganz entbehrte, die sich Mishima so sehnsüchtig gewünscht hatte. Das Wort Eleganz mag im Zusammenhang mit herausquellenden Eingeweiden seltsam erscheinen, aber bevor er Ernst machte, war Mishima zutiefst davon überzeugt, gerade diese Todesart sei wie keine andere männlich, unbedingt und eben: elegant. Sein Ende mag schmählich gewesen sein, aber von Mishima blieben immerhin seine Werke, die sich bis heute im Gedächtnis der lesenden Welt zu halten vermochten. Die Klagenfurter Niederlagen nehmen sich daneben – naturgemäß, wie Thomas Bernhard immer so schön sagte – bescheiden aus. Mir ist nicht bekannt, daß sich nach Empfang der Urteile jemand getötet hätte, zuvor gar mit einem nach Rache lechzenden Pamphlet, einer Aufforderung zur Generalumkehr, an die Öffentlichkeit getreten wäre. Wir leben gottlob in weichen Zeiten. Die Abneigung der Kritiker drückt sich eher mürrisch aus denn scharf, sie scheuen vor der Verantwortung zurück, einen Menschen vielleicht zu zerbrechen. Und die geschmähten Kandidaten geben in der Regel keine Widerworte – höchstens ein Lidzucken oder ein außer Kontrolle geratener Wangenmuskel zeigt die Kränkung an – die meisten von ihnen haben sich eine Unberührbarkeit antrainiert, die wie ein Handschuh über die gesamte Person gestülpt ist und vom inneren Tumult, den gellenden Schreien der Empörung, kaum etwas nach außen dringen läßt. Wie gesagt, wir leben in weicher Zeit und sind genötigt, uns wechselweise vorzumachen, alles sei nur ein Spiel. Trotzdem, wer vom Kindergarten an immer nur laue Ermunterungen zu hören bekommen hat, alles sei kreativ und gut, was er male, kritzele, daherschwätze, für den wird selbst das gelinde Klagenfurter Maß an Zurechtweisung massiv sein. Kompliziert an den Siegen und Niederlagen in diesem Raum ist aber, daß dabei, wie’s bei allen menschlichen Geschäften eben so geht, Fehler unterlaufen. So sind schon einige Male Sieger gekürt worden, die sich binnen weniger Jahre als Rohrkrepierer herausstellten; manch anderer Kandidat hingegen, der einst nicht sonderlich gut wegkam, hat inzwischen ein anständiges Werk beisammen, welches ihm Ehre eintrug. So er denn das Zeug überhaupt hat, ein veritabler Schriftsteller zu sein, wird eine hier erlittene Niederlage den Kandidaten nicht beirren, allenfalls für Monate – womöglich heilsam – aus der Bahn werfen und ihm eine Lehre erteilen, auf daß sich sein Charakter, ist er erst dem Trubel aus Trotz, Ärger, Niedergeschlagenheit entkommen, durch produktive Einsicht in die eigenen Mängel neu befestige. Charakterfragen sind übrigens das A und O beim Schreiben, sie werden meistens unterschätzt (aber dies nur nebenbei). Generell sind Schriftsteller Chimärenkünstler der Niederlage und nicht des Sieges. Ein Schriftsteller, der von Triumph zu Triumph forttaumelte, wäre eine zutiefst alberne Figur. Schriftstellerverwandeln Niederlagen – Kränkungen des Leibes, schmachvolle Liebesabweisungen, düstere Herkünfte, Geldmangel, eine Unbehaustheit in der modernen Welt und wer weiß was noch alles –in sublime ästhetische Gewinnste. Ein Roman mag noch so verloren wirken in seiner ausgepinselten Schwärze: der, der ihn geschrieben hat, streckt den Kopf hoch hinaus und hatte seine geheime Lust an der theaterhaften Wiederbelebung der erlittenen Pein. Es juckt mich nun, Sie mit meiner Lieblingsphantasmagorie bekannt zu machen. Herrjeh – ich zögere – sie ist gar zu albern. Wie alle Phantasien, die aufs Fundamentale zielen, ist sie leicht zu durchschauen. Die Literatur will sie emporjagen ins Alles oder Nichts, sie befreien vom Laster der Banalität, ihr eine Bedeutung
zumessen, die sie nicht hat, vielleicht nie hatte. Bedeutendes trägt sich einfach zu und kann durch kein erklügeltes System herbeigezwungen
werden (ich weiß). Vielleicht bin ich in der Phantasie von Mishimas Finalgier gar nicht so weit entfernt; was mich von ihm allerdings
trennt, ist eine doch recht behagliche Vernunfteinwohnung in der habhaften Welt, wie sie sich mir tagtäglich zeigt. Jetzt aber genug der absichernden Vorreden. Widmen wir uns endlich
der angekündigten Luftnummer. Natürlich handelt es sich um einen Wettbewerb, und zwar um einen radikalen. Die Klagenfurter Kür hat
gleichsam ein ins Großsüchtige ausgewuchertes Kindermärchen aufgehuckt bekommen. Bei meinem Wettbewerb, der nur alle zehn Jahre stattfindet, bin ich zwar wieder dabei, gewinne ihn aber nicht.
Er ist ganz auf die Dekade gestimmt. Während zehn Jahren wird nach zehn würdigen Dichtern und Schriftstellern deutscher Sprache gesucht. (Sie werden gefunden.) Überflüssig zu erwähnen, daß nur feinhörige, kluge, integre Kritiker der Jury angehören. Ganz nach dem Klagenfurter Modell werden die Erwählten gebeten, eine halbe Stunde aus ihrem Werk vorzutragen. Es wird diskutiert, der
Sieger wird gekürt. Die neun Verlierer werden erwürgt. Man stelle sich vor: wie unbedingt die Kandidaten ihre Kräfte anspannen, um ihr Allerallerbestes zu geben. Was für eine Bürde auf
den Schultern der Juroren lastet. Man stelle sich weiter vor, in welcher Haltung die Juroren die neun Leichen, die man säuberlich auf der Erde vor ihnen aufgereiht hat, abschreiten. Man höre das
Zeitungsgeraschel, die ergriffenen Radioreden, man sehe die Biere, die an Stammtischen gelüpft werden, ergötze sich an den Mitleidswogen, die durch Österreich, durch die Schweiz und durch
Deutschland schwappen: neun Wortmenschen, womöglich in der Blüte ihrer Jahre, wurde das Leben genommen, nur weil sie in den unbestechlichen Ohren des Gerichts um eine winzige Wenigkeit schlechter vortrugen als der Sieger. Nicht auszudenken, die Last des
Siegers. Wird er zerbrechen? Wird sein Werk dem Grauen, das er mitverschuldet hat, standhalten?
Über einem Opferberglein aus neun noblen Verlierern, welch eine Restitution und Resurrektion der Dichtung und Literatur! Zurück zu den Tatsachen. Werte Damen und Herren Kandidaten!
Ihnen, denen man nicht ans Leder will, sondern bloß an die Seele, empfehle ich, die Urteile mit gefalteten Händen zu empfangen, oder
indem Sie eine Hand auf den Handrücken der anderen legen. Senken Sie den Kopf ganz leicht. Es ist die Haltung der gefaßten Demut.
Nein, das bedeutet nicht, daß Sie beten. Die ineinander geschobenen Finger zeigen nur an, daß Sie bei sich sind. Aber gerade in dieser
Haltung ist’s möglich, daß ein Härchen auf Ihrem Haupt keck nach oben weist und sich stracks auf die Suche nach den himmlischen Verbindungen begibt. Auf daß alles, was im Diesseits auf Sie
herniedergeht, sich dereinst, wenn Sie vom höchsten Richter erkannt und endlich mit sich selbst bekannt werden, wandle in himmeldurchjauchzende Freude.

 

Video:
Klagenfurter Rede zur Literatur

Download Klagenfurter Rede zur Literatur:
Word-Format (*.doc)
PDF-Format (*.pdf)

Termine und Rahmenprogramm 2010

 

Banner_2010_blauBanner_2010_blau